Kokoschkins Reise
gesagt, ihr Liebhaber sei der Chef der CIA. Sie hatte keinen Liebhaber. Schließlich kam sie in eine Psychiatrische Klinik. Dort hat sie gelebt bis zu ihrem Tod.»
Bevor Kokoschkin zu Deck 7 ging, um backbords das Schwesterschiff vorüberziehen zu sehen, wie es vom Master angekündigt war, packte er seinen Koffer, befestigte am Griff den silbernen Kofferanhänger, der sich in seinen Reise-Unterlagen befunden hatte, trennte den Coupon vom Anhänger und stellte den Koffer vor die Kabinentür. Schiffspersonal sollte den Koffer ab 24 : 00 Uhr abholen und am nächsten Morgen an Land bringen. Auf dem Weg zu Deck 7 sah Kokoschkin Koffer über Koffer vor den Kabinentüren.
An der Reling drängten sich Passagiere. Gegen 23 : 00 Uhr ein Ah! und Oh! Kokoschkin sah am Horizont einen schmalen flackernden Lichtschein, der sich ostwärts bewegte. Das sollte das Schwesterschiff sein.
Drei Tage vor seiner Rückreise in die Staaten, am 5. September 2005, beim Frühstück im Hotel Bogota, sagte Kokoschkin zu Hlaváček: «Es war richtig, im Anschluß an Petersburg nach Berlin zu gehen. Das Hotel ist angenehm. Um die Ecke der Kurfürstendamm. Die Stadt ist sommerlich. Ich fühle mich wohl. Das Schönste wäre: Sie kommen am achten September mit mir nach New York; eine Schiffskarte wird es noch geben. Ich lade Sie ein. Sie besuchen mich in Boston. Überlegen Sie nicht lange. Beschließen Sie es einfach!»
«Ich weiß nicht», sagte Hlaváček. «Apropos Berlin. Sie haben mir nicht erzählt, was aus Aline und ihren Eltern geworden ist.»
«Neunzehnhundertfünfundvierzig habe ich erfahren, daß Aline und ihre Eltern in der Nacht vom zweiundzwanzigsten zum dreiundzwanzigsten November Neunzehnhundertdreiundvierzig bei einem Fliegerangriff ums Leben gekommen sind.»
«Einem amerikanischen?»
«Einem britischen. Es war einer der schwersten Angriffe auf Berlin mit über siebenhundert Bombern. Zweitausend Tote hat es gegeben. Aline war fünfunddreißig Jahre alt.»
«Und ihre Eltern?»
«Ihre Mutter achtundfünfzig, ihr Vater dreiundsechzig. Sie waren alle drei keine Hitlerfreunde, und doch mußten sie für Hitler büßen. Ich hätte gerne Blumen auf ihre Gräber gelegt, aber es gibt keine Gräber.»
«Sie haben einmal gesagt, Sie seien oft in Paris gewesen …»
«Erst nach dem Krieg. Mama …»
«Chodassewitsch, Bunin, Nina Berberova …»
«Chodassewitsch! Nina hatte sich im Frühjahr Neunzehnhundertzweiunddreißig von ihm getrennt, aber sie blieben Freunde. Neunzehnhundertdreiunddreißig heiratete er Olga Margolina. Sie war jüdisch. Die Nazis haben sie im Juli Neunzehnhundertzweiundvierzig in Paris verhaftet, und Neunzehnhundertzweiundvierzig ist sie in einem Konzentrationslager ums Leben gekommen. Im Januar Neunzehnhundertneununddreißig war Chodassewitsch krank geworden. Am vierzehnten Juni Neunzehnhundertneununddreißig ist er in einem Krankenhaus in Paris gestorben. Wahrscheinlich hatte er Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wladislaw Felizianowitsch Chodassewitsch, der gute Freund meiner Berliner Jugendzeit. Dreiundfünfzig Jahre alt.
Nina Berberova lebte während der deutschen Besetzung auf dem Lande, nahe Paris, in Longchêne. Dorthin war sie im Frühjahr Neunzehnhundertneununddreißig, fünf Monate vor Kriegsausbruch, mit ihrem zweiten Mann gezogen. Das Haus in Longchêne hatten die beiden im Mai Achtunddreißig gekauft, von dem Geld,das die Versicherung ihrem Mann gezahlt hatte nach seinem Beinbruch im Herbst Siebenunddreißig. Mama hat Nina oft in Longchêne besucht. Neunzehnhundertfünfzig ist Nina, lange nach der Trennung von ihrem zweiten Mann, in die Staaten gegangen – gefahren, mit dem Schiff von Le Havre. Sie blieb zuerst in New York und lernte dort Alexandra Tolstoja, die jüngste Tochter von Leo Tolstoi, kennen. Alexandra leitete eine Organisation, die sich um Displaced Persons kümmerte. In New York habe ich Nina besucht. Sie erinnerte sich gut an die Berliner Zeit, an den kleinen Fjodor, und wir sprachen viel von Mama, die sich seit Berlin an Nina gehängt hatte. Sieben Jahre lang schlug Nina sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Aber seit Achtundfünfzig lehrte sie an der Yale University in New Haven russische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Später lehrte sie in Princeton. Neunzehnhundertdreiundneunzig, mit zweiundneunzig Jahren, ist sie in Philadelphia gestorben.
Mama wollte Nina Neunzehnhundertfünfzig nicht mehr folgen. Mama war damals fünfundsechzig Jahre alt
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