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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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hier und da flacheres Gelände mit üppigen Wiesen wie der, wo ich meinen Mittagsschlaf hielt, und solche Orte eignen sich gut für die Viehhaltung. Fast 500 Jahre lang, von 984 bis ins 15. Jahrhundert, wurden diese Fjordsysteme zur Lebensgrundlage für den abgelegensten Außenposten der europäischen Zivilisation; hier, fast 2500 Kilometer von Norwegen entfernt, bauten die Skandinavier eine Kathedrale und kleinere Kirchen, schrieben auf Lateinisch und Altnordisch, schmiedeten Eisenwerkzeuge, hielten Nutztiere, richteten sich mit ihrer Kleidung nach der neuesten europäischen Mode - und gingen schließlich zugrunde.
    Ein Symbol für das Rätsel ihres Verschwindens ist die steinerne Kirche von Hvalsey, das berühmteste Gebäude von Normannisch-Grönland, dessen Foto sich in jedem Prospekt zur Förderung des Grönlandtourismus findet. Sie liegt in der Wiesenlandschaft am oberen Ende des langen, breiten, von Bergen gesäumten Fjordes und bietet einen großartigen Blick über ein Gebiet von vielen Dutzend Quadratkilometern. Ihre Mauern, der nach Westen gerichtete Haupteingang, Nischen und Giebel sind noch unversehrt; nur das ursprüngliche, rasengedeckte Dach fehlt. Rund um die Kirche liegen Überreste von Versammlungsräumen, Ställen, Lagerhäusern, Bootshäusern und Weiden, die den Erbauern dieser Monumente den Lebensunterhalt sicherten. Unter allen Gesellschaften des mittelalterlichen Europas ist die von Normannisch-Grönland diejenige mit den am besten erhaltenen Ruinen, und das liegt genau daran, dass ihre Siedlungen im unbeschädigten Zustand aufgegeben wurden, während fast alle anderen wichtigen mittelalterlichen Ortschaften in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent immer wieder erobert wurden und unter späteren Bauwerken verschwanden. Wenn man Hvalsey heute besucht, rechnet man fast damit, dass Wikinger aus den Gebäuden treten, aber in Wirklichkeit ist alles still: Im Umkreis von mehr als 30 Kilometern wohnt praktisch niemand. Wer diese Kirche erbaute, verfügte auch über ausreichende Kenntnisse, um hier eine europäische Gesellschaft nachzubauen und über Jahrhunderte aufrechtzuerhalten - aber das Wissen reichte nicht, um ihr Überleben noch länger zu sichern.
    Etwas anderes macht die Sache noch rätselhafter: Die Wikinger teilten sich Grönland mit einer anderen Bevölkerungsgruppe, den Inuit (Eskimos), während sie Island für sich allein hatten, sodass dort kein derartiges Problem ihre Schwierigkeiten verstärkte. Die Wikinger verschwanden auf Grönland, aber die Inuit überlebten - ein Beweis, dass Menschen dort durchaus leben können und dass das Verschwinden der Wikinger nicht unvermeidlich war. Wenn man heute in Grönland über die landwirtschaftlichen Anwesen geht, sieht man wieder die gleichen beiden Gruppen, die sich die Insel auch im Mittelalter teilten: Inuit und Skandinavier. Im Jahr 1721, drei Jahrhunderte nachdem die mittelalterlichen Wikinger ausgestorben waren, übernahmen andere Skandinavier (nämlich Dänen) die Herrschaft über Grönland, und erst 1979 erhielten die Ureinwohner der Insel die Selbstverwaltung. Für mich waren die vielen blauäugigen, blonden Skandinavier die in Grönland arbeiteten, ein verwirrender Anblick, insbesondere wenn ich darüber nachdachte, dass Menschen wie sie die Kirche von Hvalsey und die anderen für mich interessanten Gebäude errichtet hatten und dass sie später ausgestorben waren. Warum wurden die mittelalterlichen Skandinavier letztlich mit den Problemen Grönlands nicht fertig, während es den Inuit gelang?
    Wie bei den Anasazi, so wurde auch das Schicksal der Norweger in Grönland häufig mit verschiedenen Einzelfaktoren erklärt, ohne dass man aber Einigkeit darüber erzielt hätte, welche dieser Erklärungen stimmte. Eine beliebte Theorie machte eine Klimaabkühlung verantwortlich, die in übermäßig schematischer Formulierung (in den Worten des Archäologen Thomas McGovern) ungefähr lautete: »Es wurde zu kalt, und dann starben sie.« Andere Einzelfaktoren, die zur Erklärung angeführt wurden, waren die Ausrottung der Wikinger durch die Inuit, die Isolierung der Wikinger vom europäischen Festland, Umweltschäden und eine hoffnungslos konservative Einstellung. In Wirklichkeit ist das Verschwinden der altnordischen Grönländer gerade deshalb so aufschlussreich, weil dabei alle fünf Faktoren, die ich in der Einleitung zu diesem Buch beschrieben habe, eine Rolle spielten. Es ist nicht nur im tatsächlichen Ablauf ein umfangreiches

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