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Kollaps

Kollaps

Titel: Kollaps Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Beispiel, sondern auch im Hinblick auf die Informationen, die wir darüber besitzen: Die Wikinger hinterließen schriftliche Aufzeichnungen über Grönland (während die Bewohner der Osterinsel und die Anasazi Analphabeten waren), und außerdem verstehen wir die mittelalterliche europäische Gesellschaft ohnehin viel besser als die Gesellschaften der Polynesier oder Anasazi. Dennoch bleiben auch im Zusammenhang mit diesem am besten belegten Zusammenbruch der vorindustriellen Zeit wichtige Fragen offen.
    Wie sah die Umwelt aus, in der die grönländischen Wikinger ihren Aufschwung erlebten, gediehen und zusammenbrachen? Die Wikinger wohnten in zwei Siedlungen an der Westküste Grönlands, die ein wenig südlich vom nördlichen Polarkreis ungefähr auf 61 und 64 Grad nördlicher Breite liegen. Damit befanden sie sich weiter südlich als der größte Teil Islands und auf einer Breite, die mit der von Bergen und Trondheim an der Ostküste Norwegens vergleichbar war. Aber in Grönland ist es kälter als in Island oder Norwegen, weil die beiden Letzteren von dem warmen Golfstrom umspült werden, der aus Süden heranfließt, während sich die grönländische Westküste im Bereich des kalten Westgrönlandstromes befindet, der aus der Arktis kommt. Deshalb kann man das Wetter selbst an den Orten der früheren Wikingersiedlungen, die sich noch des mildesten Klimas in ganz Grönland erfreuen, mit vier Worten beschreiben: kalt, wechselhaft, windig und nebelig.
    Heute liegt die Durchschnittstemperatur im Sommer an der Küste in der Region der Siedlungen bei rund fünf bis sechs Grad Celsius und landeinwärts, am oberen Teil der Fjorde, bei 10 Grad Celsius. Das hört sich nicht nach eisiger Kälte an, aber man muss daran denken, dass diese Werte nur für die wärmsten Monate des Jahres gelten. Außerdem kommt von der Eiskappe Grönlands häufig ein starker, trockener Wind, der Treibeis aus Norden mitbringt. Die Fjorde sind deshalb häufig auch im Sommer von Eisbergen blockiert, und der Wind verursacht dichten Nebel. Wie man mir erzählte, kommen große, kurzfristige Klimaschwankungen, wie ich sie während meines sommerlichen Besuches in Grönland erlebte - mit heftigem Regen, starkem Wind und Nebel - häufig vor und machen Bootsfahrten vielfach unmöglich. Schiffe sind aber in Grönland das wichtigste Transportmittel, denn die Küste wird immer wieder von tief eingeschnittenen, verzweigten Fjorden zerschnitten. (Noch heute sind die wichtigsten Bevölkerungszentren Grönlands nicht durch Straßen verbunden; Gemeinden, zwischen denen es Straßen gibt, liegen entweder an derselben Seite eines Fjordes oder an verschiedenen Fjorden, die nur durch eine niedrige Hügelkette getrennt sind.) Ein solches Unwetter vereitelte auch meinen ersten Versuch, die Kirche von Hvalsey zu erreichen: Ich kam am 25. Juli bei schönem Wetter mit dem Schiff in Qaqotoq an, aber schon am 26. Juli war der Schiffsverkehr aus dem Ort durch Wind, Regen, Nebel und Eisberge zum Erliegen gekommen. Am 27. Juli besserten sich die Verhältnisse wieder, sodass wir nach Hvalsey fahren konnten, und am folgenden Tag fuhren wir bei blauem Himmel aus dem Fjord von Qaqotoq nach Brattahlid.
    Ich erlebte das grönländische Wetter von seiner besten Seite, an der Stelle der südlichsten Wikingersiedlung und im Hochsommer. Als Besucher aus dem Süden Kaliforniens, der an warme, sonnige Tage gewöhnt war, würde ich die Temperaturen als »wechselhaft von kühl bis kalt« bezeichnen. Ich musste immer einen Anorak und darunter T-Shirt, langärmeliges Hemd und Sweatshirt tragen, und häufig nahm ich noch den dicken Daunenanorak dazu, den ich mir für meine erste Reise in die Arktis gekauft hatte. Die Temperatur änderte sich schnell und in großen Sprüngen, und das von Stunde zu Stunde. Manchmal hatte ich das Gefühl, als bestünde meine Hauptbeschäftigung bei meinen Rundgängen auf Grönland darin, den Anorak an- und auszuziehen, um mich immer wieder auf die veränderte Temperatur einzustellen.
    Komplizierter wird dieses Bild vom heutigen Durchschnittsklima in Grönland noch dadurch, dass das Wetter sich häufig über kurze Entfernungen und auch von Jahr zu Jahr ändert. Der Wechsel über kurze Entfernungen ist einer der Gründe, warum Christian Keller zu mir sagte, es sei in Grönland so wichtig, die Stellen mit guten Ressourcen zu finden. Die jährlichen Schwankungen wirken sich auf das Wachstum des Weidegrases aus, von dem die Wirtschaft der Wikinger abhängig war, und sie

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