Kollaps
weit von Norwegen entfernt, und in den ersten Jahrhunderten tauchten auch keine feindseligen Einheimischen auf. Aber Grönland litt - wenn auch in weniger extremer Form - unter dem gleichen Doppelproblem wie Vinland: Es war isoliert, und die Wikinger waren nicht in der Lage, gute Beziehungen zu den Einheimischen herzustellen. Wären die amerikanischen Ureinwohner nicht gewesen, hätten die Grönländer die ökologischen Probleme vielleicht bewältigt und die Siedler wären in Vinland geblieben. In diesem Falle hätte Vinland eine Bevölkerungsexplosion erlebt, die Norweger hätten sich nach dem Jahr 1000 über Nordamerika verbreitet, und ich, ein Amerikaner des 21. Jahrhunderts, würde dieses Buch vielleicht nicht auf Englisch schreiben, sondern in einer Sprache, die wie das heutige Isländisch oder die Sprache der Färöer auf das Altnordische zurückgeht.
KAPITEL 7
Die Blütezeit von Normannisch-Grönland
Ein Außenposten Europas ■ Grönlands Klima heute ■ Das Klima früherer Zeiten ■ Einheimische Pflanzen und Tiere ■ Die Besiedelung durch die Wikinger ■ Landwirtschaft ■ Jagd und Fischerei ■ Eine integrierte Wirtschaft ■ Gesellschaft ■ Handel mit Europa ■ Das Selbstbild
Als ich nach Grönland (»grünes Land«) kam, war mein erster Eindruck: Der Name ist eine grausame Irreführung. In der Landschaft, die ich vor mir hatte, gab es nur drei Farben: Weiß, Schwarz und Blau, wobei das Weiß bei weitem überwog. Nach Ansicht mancher Historiker wurde der Name tatsächlich in betrügerischer Absicht von Erik dem Roten geprägt, dem Begründer der grönländischen Wikingersiedlung, der damit seine Landsleute veranlassen wollte, sich ihm anzuschließen. Als sich mein Flugzeug, von Kopenhagen kommend, der Ostküste Grönlands näherte, sah ich hinter dem dunkelblauen Ozean als Erstes eine riesige, leuchtend weiße Fläche, die sich bis zum Horizont erstreckte - die größte Eiskappe der Welt nach der Antarktis. Die Küste Grönlands steigt steil bis zu einer eisbedeckten Hochebene an, die den größten Teil der Insel ausmacht und von riesigen, ins Meer abfallenden Gletschern entwässert wird. Hunderte von Kilometern weit flogen wir über die weite weiße Fläche, und als einzige weitere Farbe sah man das Schwarz der nackten Steingebirge, die sich aus dem Meer aus Eis erhoben und sich darüber verteilten wie schwarze Inseln. Erst als das Flugzeug von der Hochebene in Richtung der Westküste in den Landeanflug ging, konnte ich an einer dünnen Grenzlinie am Rand der Eiskappe zwei andere Farben ausmachen: braune Gebiete aus nacktem Kies und den zartgrünen Schimmer von Moos oder Flechten.
Als ich aber in Narsarsuarq gelandet war, dem wichtigsten Flughafen im Süden Grönlands, und dann den von Eisbergen übersäten Fjord in Richtung Brattahild überquerte, wo Erik der Rote seinen eigenen Hof errichtet hatte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass er den Namen Grönland vielleicht doch nicht als falsche Reklame, sondern mit ehrlichen Absichten gewählt hatte. Auf meinem langen Flug von Los Angeles nach Kopenhagen und von dort zurück nach Grönland hatte ich 13 Zeitzonen durchquert und war entsprechend erschöpft. Ich machte mich zu einem kurzen Rundgang durch die normannischen Ruinen auf, aber bald war ich so müde, dass ich nicht einmal die paar hundert Meter zu der Jugendherberge zurückwandern konnte, wo ich meinen Rucksack abgestellt hatte. Glücklicherweise befanden sich die Ruinen mitten auf einer üppigen Wiese mit weichem, mehr als 30 Zentimeter hohem Gras, das aus dem Moos herauswuchs und mit unzähligen gelben Butterblumen, gelbem Löwenzahn, blauen Glockenblumen, weißen Astern und rosa Weidenröschen übersät war. Matratzen oder Kissen waren hier nicht nötig: Ich schlief auf dem weichsten, schönsten natürlichen Bett ein, das man sich nur vorstellen konnte.
Ein guter Bekannter, der norwegische Archäologe Christian Keller, drückte es so aus: »In Grönland besteht das Leben daraus, gute Stellen mit nützlichen Ressourcen zu finden.« Zu 99 Prozent ist die Insel tatsächlich unbewohnbar, weiß oder schwarz, aber tief in den beiden Fjordsystemen an der Südwestküste gibt es grüne Abschnitte. Die langen, schmalen Fjorde schneiden tief ins Land ein, sodass ihr oberes Ende weit von kalten Meeresströmungen, Eisbergen, salziger Gischt und Wind entfernt ist, jenen Einflüssen, die unmittelbar an der Küste das Pflanzenwachstum unterdrücken. Entlang der meist steilen Fjordufer gibt es
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