Kollaps
besaßen im schlimmsten Fall im Frühjahr überhaupt keine lebenden Tiere mehr. Im besten Fall mussten sie die gesamte Milchproduktion ihrer Herde für die Aufzucht von Kälbern, Lämmern und Kindern verwenden, und die Bauern selbst konnten sich nicht mehr von Milchprodukten ernähren, sondern mussten auf Robben- oder Karibufleisch zurückgreifen.
Diese Rangordnung in der Qualität der Höfe spiegelt sich in den unterschiedlich großen Kuhställen der heutigen Ruinen wider. Das bei weitem beste Anwesen mit dem Platz für die meisten Rinder war Gardar: Es hatte als Einziges zwei riesige Ställe, die insgesamt 160 Kühe aufnehmen konnten. Auf Höfen aus der »zweiten Liga« wie Brattahlid und Sandnes boten die Ställe Platz für jeweils 30 bis 50 Kühe. Ärmere Anwesen dagegen hatten nur Räumlichkeiten für wenige Rinder, unter Umständen auch nur für ein Einziges. Deshalb mussten die guten Anwesen in schlechten Jahren die ärmeren unterstützen und ihnen im Frühjahr Tiere ausleihen, damit sie ihre Bestände wieder aufbauen konnten.
Die grönländische Gesellschaft war also durch ein hohes Maß an gegenseitiger Abhängigkeit und Austausch gekennzeichnet: Robben und Seevögel wurden ins Landesinnere transportiert, Karibus gelangten von den Bergen in die Niederungen, Walrossstoßzähne brachte man nach Süden und Vieh von den reicheren zu den ärmeren Höfen. Aber wie in anderen Regionen der Erde, wo reiche und arme Menschen voneinander abhängig sind, so besaßen Arme und Reiche auch in Grönland am Ende nicht den gleichen durchschnittlichen Wohlstand. Wie man an der Anzahl der Knochen verschiedener Tierarten in den Abfällen erkennt, machten angesehene und weniger angesehene Lebensmittel in der Ernährung der einzelnen Menschen unterschiedliche Anteile aus. Auf den guten Höfen war der Anteil der hoch geschätzten Kühe gegenüber den weniger geschätzten Schafen und dieser gegenüber den noch weniger geschätzten Ziegen höher als auf den ärmeren Anwesen, und ebenso war er auf den Anwesen der Östlichen Siedlung höher als auf denen der Westlichen. Karibu- und insbesondere Robbenknochen sind in der Westlichen Siedlung zahlreicher als in der Östlichen, denn die Westliche Siedlung eignete sich für die Viehhaltung schlechter und war außerdem nicht weit von großen Lebensräumen der Karibus entfernt. Von diesen beiden Produkten wilder Tiere ist das Karibufleisch auf den reichen Höfen (insbesondere Gardar) stärker repräsentiert, die Bewohner der ärmeren Anwesen dagegen ernährten sich in größerem Umfang von Robbenfleisch. Während meines Grönlandaufenthaltes zwang ich mich aus Neugier, Robbenfleisch zu probieren, aber dabei gelangte ich nicht weiter als bis zum zweiten Bissen; anschließend verstand ich viel besser, warum Menschen mit europäischer Ernährungstradition das Wildbret gegenüber den Robben bevorzugen, wenn sie die Wahl haben.
Ich möchte diese allgemeinen Erkenntnisse mit einigen realen Zahlen belegen: Nach den Abfällen eines armen Hofes in der Westlichen Siedlung zu urteilen, der unter dem Namen W48 oder Niaquusat bekannt ist, bestand die Ernährung seiner unglückseligen Bewohner zu dem entsetzlich hohen Anteil von 85 Prozent aus Robbenfleisch; sechs Prozent stammten von Ziegen, nur fünf Prozent von Karibus, drei Prozent von Schafen und ein Prozent (welch seltener Festtag!) von Rindern. Zur gleichen Zeit erfreute sich die Oberschicht in Sandnes, dem reichsten Hof der Westlichen Siedlung, einer Ernährung mit 32 Prozent Karibufleisch, 17 Prozent Rindfleisch, sechs Prozent Schaffleisch und sechs Prozent Ziegenfleisch, sodass nur noch 39 Prozent auf die Robben entfielen. Am besten war die Elite der Östlichen Siedlung auf dem Hof Eriks des Roten in Brattahlid dran: Ihr gelang es, den Rindfleischkonsum über die Mengen von Karibu- und Schaffleisch zu steigern, und Ziegenfleisch wurde dort überhaupt nicht in nennenswerten Mengen verzehrt.
Wie hoch gestellte Personen dazu kamen, bevorzugte Lebensmittel zu verzehren, die niedriger gestellten Menschen selbst auf dem gleichen Hof in weitaus geringerem Umfang zur Verfügung standen, wird an zwei pikanten Anekdoten deutlich. Als Archäologen die Ruinen der St.-Nikolaus-Kathedrale von Gardar ausgruben, fanden sie unter dem steinernen Fußboden das Skelett eines Mannes mit Bischofsstab und Ring; vermutlich handelte es sich um Johann Arnason Smyrill, der von 1189 bis 1209 Bischof von Grönland war. Aus der Kohlenstoffisotopenanalyse seiner Knochen
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