Kollaps
den Wintermonaten von November bis April musste man die Tiere in den Ställen versorgen, Stoffe weben, mit Holz Gebäude errichten, Möbel bauen und reparieren, die Zähne der im Sommer erlegten Walrosse verarbeiten - und beten, dass die Vorräte an Milchprodukten und Trockenfleisch zur Ernährung der Menschen, das Heu als Tierfutter sowie die Brennstoffe zum Heizen und Kochen nicht vor dem Ende des Winters zur Neige gingen.
Neben dieser zeitlichen Abstimmung war aber auch eine räumliche wirtschaftliche Integration erforderlich: Selbst die reichsten Bauernhöfe in Grönland konnten nicht alles, was sie zum Überleben im Lauf des Jahres brauchten, selbst produzieren. Diese Integration umfasste den Warenverkehr zwischen dem oberen und unteren Teil der Fjorde, zwischen Höfen in den Niederungen und im Hochland, zwischen der Westlichen und Östlichen Siedlung sowie zwischen reicheren und ärmeren Höfen. Die besten Weidegründe befanden sich beispielsweise in den Niederungen am oberen Ende der Fjorde, die Karibujagd fand im Hochland auf Höfen statt, die sich wegen der kühleren Temperaturen und der kürzeren Wachstumssaison nicht sonderlich für die Weidewirtschaft eigneten, und die Robbenjagd konzentrierte sich auf den unteren Teil der Fjorde, wo Salzgischt, Nebel und kaltes Wetter schlechte Voraussetzungen für die Landwirtschaft boten. Diese Jagdreviere am äußeren Teil der Fjorde waren von den Bauernhöfen im Landesinneren nicht mehr zu erreichen, wenn die Fjorde zufroren oder sich mit Eisbergen füllten. Solche geographischen Probleme lösten die Wikinger, indem sie tote Robben und Seevögel vom unteren in den oberen Teil der Fjorde transportierten, und erlegte Karibus wurden aus dem Hochland zu den Höfen in den Niederungen gebracht. Robbenknochen kommen beispielsweise auch in den Abfällen der am höchsten gelegenen Höfe im Landesinneren häufig vor, das heißt, die Tiere müssen über viele Dutzend Kilometer von der Mündung des Fjordes dorthin transportiert worden sein. Auf den Vatnahverfi-Höfen weit im Landesinneren sind Robbenknochen im Abfall ebenso zahlreich wie die Knochen von Schafen und Ziegen. Umgekehrt kommen Karibuknochen in den reichen Höfen der Niederungen sogar häufiger vor als in den höher gelegenen, ärmeren Anwesen, wo die Tiere erlegt wurden.
Da die Westliche Siedlung fast 500 Kilometer weiter nördlich liegt als die Östliche, erreichte sie beim Heuertrag je Hektar nur ein knappes Drittel dessen, was die Östliche Siedlung produzierte. Andererseits lag die Westliche Siedlung näher an den Jagdrevieren für Walrosse und Eisbären, die, wie ich noch genauer erläutern werde, Grönlands wichtigste Exportgüter für Europa darstellten. Dennoch hat man Walrosselfenbein an den meisten archäologischen Fundstätten der Östlichen Siedlung gefunden: Dort wurde es offensichtlich während des Winters weiterverarbeitet, und auch der Schiffsverkehr (einschließlich des Elfenbeinexports) nach Europa spielte sich vorwiegend in Gardar und den anderen großen Anwesen der Östlichen Siedlung ab. Demnach war die Westliche Siedlung für die Wikingerwirtschaft von entscheidender Bedeutung, obwohl sie viel kleiner war als die Östliche.
Die Integration von ärmeren und reicheren Höfen war auch deshalb notwendig, weil Graswachstum und Heuproduktion insbesondere von zwei Faktoren abhängen: Temperatur und Sonnenscheindauer. Höhere Temperaturen und mehr Sonnenstunden oder -tage während der sommerlichen Wachstumssaison hatte zur Folge, dass ein Hof mehr Gras oder Heu produzieren und damit auch mehr Tiere füttern konnte, einerseits weil das Vieh selbst das Gras im Sommer abweidete, und andererseits weil im Winter mehr Heu zur Verfügung stand. Die besten Höfe, die sich in den Niederungen am oberen Ende der Fjorde befanden oder über Südhanglagen verfügten, produzierten deshalb in guten Jahren weit mehr Heu und Tiere, als ihre Bewohner selbst zum Überleben brauchten, bei den ärmeren Anwesen in höheren Lagen, am unteren Ende der Fjorde oder ohne nach Süden gerichtete Flächen war dieser Überschuss dagegen wesentlich geringer. In schlechten (kälteren und/oder nebligen) Jahren ging die Heuproduktion zwar überall zurück, die besten Höfe dürften aber auch dann noch einen
- wenn auch geringen - Überschuss erwirtschaftet haben. Ärmere Bauern dagegen hatten dann nicht mehr genug Heu, um alle Tiere über den Winter zu bringen: Sie mussten im Herbst einen Teil ihrer Viehbestände schlachten und
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