Kollaps
zusammengeschlossen, die sich um 14 Hauptkirchen gruppierten, sodass jeweils ungefähr 20 Höfe zu einer Kirche gehörten. Die Wikingergesellschaft auf Grönland war stark gemeinschaftsorientiert: Ein Einzelner konnte sich nicht von ihr entfernen und selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen. Einerseits war die Zusammenarbeit aller Bewohner eines Hofes oder einer Gemeinde unentbehrlich für die Robbenjagd im Frühjahr, die Nordrseta-Jagd im Sommer (von der noch genauer die Rede sein wird), die spätsommerliche Heuernte und die Karibujagd im Herbst sowie für die Bautätigkeit, alles Tätigkeiten, die nur in gemeinschaftlicher Arbeit ausgeführt werden konnten und für einen Einzelnen nur schlecht oder gar nicht zu bewältigen gewesen wären. (Man braucht sich nur vorzustellen, wie eine Herde wilder Karibus oder Robben zusammengetrieben werden muss oder wie ein vier Tonnen schwerer Stein an seinen Platz in einer Kathedrale gebracht wird.) Andererseits war die Kooperation aber auch für die wirtschaftliche Integration der Höfe und insbesondere der einzelnen Gemeinden notwendig: An den verschiedenen Stellen in Grönland wurden unterschiedliche Dinge produziert, sodass die Bewohner dieser Orte wegen der Dinge, die sie nicht selbst erzeugten, aufeinander angewiesen waren. Die 160 Rinder, für die es in den Ställen von Gardar Verschläge gab, gingen weit über den lokalen Bedarf hinaus. Wie wir noch genauer erfahren werden, wurden Walrosszähne, Grönlands kostbarste Exportware, von wenigen Jägern aus der Westlichen Siedlung in den Jagdrevieren von Nordrseta beschafft und dann unter den Höfen beider Siedlungen zur aufwendigen Weiterverarbeitung verteilt, bevor man sie exportierte.
Zu einem Bauernhof zu gehören, war sowohl für das Überleben als auch für die gesellschaftliche Identität unerlässlich. Jedes Stückchen der wenigen nutzbaren Landflecken in der Westlichen und Östlichen Siedlung gehörte entweder zu einem einzelnen Hof oder war Gemeinschaftseigentum einer Gruppe von Höfen, die damit ein Recht auf alle Ressourcen dieses Landes hatten, nicht nur auf seine Weiden und sein Heu, sondern auch auf Karibus, Torf, Beeren und sogar das Treibholz. Ein Grönländer, der allein zurechtkommen wollte, hätte also nicht einfach auf die Jagd und zum Sammeln gehen können. Wer in Island seinen Hof verlor oder von der Gemeinschaft geächtet wurde, konnte es an einer anderen Stelle versuchen - auf einer Insel, einem aufgegebenen Hof oder in dem Hochland des Landesinneren. Diese Möglichkeit bestand in Grönland nicht - es gab kein »anderswo«, wohin man hätte gehen können.
Dies führte zu einer streng kontrollierten Gesellschaft: Die wenigen Oberhäupter der reichsten Höfe konnten verhindern, dass irgendjemand etwas tat, das ihre Interessen zu bedrohen schien; so konnte auch niemand mit Neuerungen experimentieren, die für die Häuptlinge keinen Nutzen versprachen. An der Spitze der Westlichen Siedlung stand Sandnes, ihr reichster Hof, der als Einziger Zugang zum unteren Teil des Fjordes hatte, und die Östliche Siedlung wurde von Gardar beherrscht, das nicht nur der reichste Hof, sondern auch der Sitz des Bischofs war. Wie wir noch sehen werden, liefern diese Tatsachen zumindest teilweise eine Erklärung für das Schicksal, das die grönländischen Wikingergesellschaft schließlich ereilte.
Mit dem Gemeinschaftsgefühl kam auch ein starker Hang zur Gewalttätigkeit aus Island und Norwegen nach Grönland. In diesem Zusammenhang verfügen wir über einige schriftliche Belege: Als der norwegische König Sigurd Jorsalfar im Jahr 1124 einem Priester namens Arnald nahe legte, dieser solle als erster ständiger Bischof nach Grönland gehen, führte Arnald für seinen Widerwillen auch das Argument an, die Grönländer seien so streitsüchtige Menschen. Darauf erwiderte der eigenwillige König: »Je größere Prüfungen dir von Menschenhand auferlegt werden, desto größer werden deine eigenen Verdienste und Belohnungen sein.« Daraufhin willigte Arnald ein, allerdings unter der Bedingung, dass Einar Sokkason, der Sohn eines angesehenen grönländischen Häuptlings, mit einem Eid gelobte, ihn und das Eigentum der Kirche in Grönland zu verteidigen und seine Feinde zu vernichten. Wie die Saga von Einar Sokkason berichtet (siehe Kasten), wurde Arnald nach seiner Ankunft in Grönland tatsächlich in die üblichen gewalttätigen Konflikte verwickelt, aber er ging damit so geschickt um, dass die wichtigsten Beteiligten (unter
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