Kollaps
konnte man ablesen, dass er sich zu 75 Prozent von an Land produzierten Lebensmitteln (vermutlich vorwiegend Rindfleisch und Käse) ernährt hatte, während Nahrung aus dem Meer (vor allem Robbenfleisch) nur 25 Prozent beigesteuert hatte. Ein Mann und eine Frau aus der gleichen Zeit, die unmittelbar unter dem Bischof bestattet waren und demnach vermutlich ebenfalls hochrangige Personen gewesen waren, hatten einen etwas größeren Anteil (45 Prozent) von Lebensmitteln aus dem Meer verzehrt, aber bei anderen Skeletten aus der Östlichen Siedlung reichte dieser Anteil bis zu 78 Prozent und in der Westlichen Siedlung sogar bis zu 81 Prozent. Und zweitens konnte man in Sandnes, dem reichsten Hof der Westlichen Siedlung, anhand der Tierknochen aus dem Abfallhaufen vor dem Haupthaus beweisen, dass die Bewohner viel Karibufleisch und das Fleisch der Haustiere aßen, aber nur wenig Robbenfleisch. Nur 50 Meter entfernt befand sich ein Stall, wo das Vieh wahrscheinlich während des Winters gehalten wurde und wo Landarbeiter zwischen den Tieren und ihrem Dung hausten. Der Abfallhaufen vor dem Stall lässt erkennen, dass diese Arbeiter sich mit Robbenfleisch zufrieden geben mussten und sich nur selten über Karibus, Rindfleisch oder Hammelfleisch freuen konnten.
Mit einer solchen vielschichtig integrierten Wirtschaftsordnung, die sich auf Viehhaltung, Jagd an Land und Tierfang auf den Fjorden stützte, konnten die grönländischen Wikinger sich in einer Umwelt halten, in der keiner dieser Bestandteile allein zum Überleben ausgereicht hätte. Die gleiche Wirtschaft liefert aber auch Anhaltspunkte dafür, welche Ursachen schließlich zum Niedergang der Grönländer beigetragen haben könnten, denn ein Versagen eines dieser Bestandteile stellte stets eine erhebliche Bedrohung dar. Viele Unwägbarkeiten des Klimas konnten das Gespenst der Hungersnot heraufbeschwören: ein kurzer, kühler nebliger Sommer oder ein feuchter August mit verminderter Heuproduktion; ein langer, schneereicher Winter, der sowohl dem Vieh als auch den Karibus zusetzte und bei den Haustieren zu einem erhöhten Heubedarf führte; Eisgang auf den Fjorden, der in der Robbenfangsaison im Mai und Juni den Zugang zum äußeren Teil der Fjorde behinderte; Schwankungen der Wassertemperatur im Meer, die sich auf die Fischbestände und damit auch auf die Bestände der Fisch fressenden Robben auswirkte; oder eine Klimaänderung im weit entfernten Neufundland mit Auswirkungen auf die Paarungsgebiete der Sattelrobben und Klappenmützen. Aus moderner Zeit sind für Grönland mehrere derartige Ereignisse dokumentiert: So kamen beispielsweise in dem kalten Winter 1966/67 mit seinen starken Schneefällen insgesamt 22 000 Schafe ums Leben, und die Zahl der wandernden Sattelrobben sank in den kalten Jahren von 1959 bis 1974 auf zwei Prozent des früheren Wertes. Selbst in den besten Jahren lag die Westliche Siedlung mit ihrer Heuproduktion enger an der Grenze des Möglichen als die Östliche, und eine nur um ein Grad niedrigere Sommertemperatur reichte aus, um die Heuproduktion der Westlichen Siedlung unter das Minimum zu drücken.
Nach einem einzigen schlechten Sommer oder Winter wurden die Wikinger mit dem Verlust an Vieh fertig, vorausgesetzt, es folgte eine Reihe von guten Jahren, in denen sie ihre Herden wieder aufbauen konnten, während sie gleichzeitig genügend Robben- und Karibufleisch zu essen hatten. Gefährlicher war es, wenn in einem einzigen Jahrzehnt mehrere schlechte Jahre aufeinander folgten oder wenn sich an einen Sommer mit geringer Heuproduktion ein langer, schneereicher Winter anschloss, sodass man in den Ställen viel Heu als Futter für die Tiere brauchte. Noch stärker wurde die Bedrohung, wenn die Robbenbestände zusammenbrachen oder der Zugang zum äußeren Teil der Fjorde im Frühjahr aus irgendwelchen Gründen behindert war. Wie wir noch genauer erfahren werden, geschah genau das am Ende in der Westlichen Siedlung.
Die normannisch - grönländische Gesellschaft kann man mit fünf Adjektiven charakterisieren, die einander teilweise ein wenig widersprechen: gemeinschaftsbewusst, gewalttätig, hierarchisch, konservativ und eurozentrisch. Alle diese Eigenschaften wurden von den Herkunftsgesellschaften in Island und Norwegen übernommen, fanden aber in Grönland eine besonders extreme Ausdrucksform.
Insgesamt lebten ungefähr 5000 Menschen auf250 Höfen; diese hatten also im Durchschnitt jeweils 20 Bewohner und waren ihrerseits zu Gemeinden
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