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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Verfolger gesehen hatte, rannte er weiter. Seine Taschenlampe hatte er mittlerweile an einer Kordel um den Hals hängen, sodass er beide Hände frei hatte. Leo streckte eine Hand aus und legte sie an die Tunnelwand. Etwas vibrierte so heftig, dass seine Finger zu zittern anfingen.
    Der Junge sprintete weiter, das Wasser klatschte ihm um die Fußgelenke. Leo verfolgte die Flucht mit der Taschenlampe. Wendig wie eine Katze nutzte der Junge die Rundungen der Tunnelwände aus, lief an einer Seite hinauf, schnellte zurück und sprang hoch. Sein Ziel war die unterste Sprosse einer Leiter, die aus einem senkrechten Schacht über ihm lugte. Der Junge verfehlte sie und landete klatschend auf dem Boden. Leo rannte los. Hinter sich konnte er Timurs angeekeltes Fluchen hören, bestimmt wegen der vielen Ratten. Der Junge war schon wieder auf den Beinen und nahm Anlauf für einen zweiten Sprung in Richtung Leiter.
    Urplötzlich schwoll das beinahe unbewegliche Rinnsal an und verbreiterte sich. Ein unheimliches Getöse erfüllte den Tunnel. Leo richtete die Taschenlampe nach oben. Der Lichtstrahl erfasste weiße Gischt, eine Bugwelle, die in kaum zweihundert Metern Entfernung auf sie zuraste.
    Ihnen blieben nur noch Sekunden. Der Junge machte einen weiteren Versuch, die Leiter zu erreichen. Er lief die Wand hoch und griff nach der untersten Sprosse. Diesmal erwischte er sie mit beiden Händen. Er zog sich hoch und kletterte in den senkrechten Schacht, weg vom Wasser. Leo drehte sich um. Das Wasser kam immer näher. Gerade hatte Timur den Haupttunnel erreicht.
    Als er am Fuß der Leiter ankam, klemmte Leo sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und sprang hoch. Er erwischte die eiserne Sprosse und zog sich mit brennenden Händen hoch. Über sich sah er den Jungen kraxeln. Ohne auf die Schmerzen zu achten, kletterte Leo ihm so schnell wie möglich nach. Er holte auf, erwischte seinen Fuß und hielt ihn fest, obwohl der Junge sich freizutreten versuchte. Leo richtete mit der anderen Hand den Lichtstrahl nach unten. Am Fuße des Schachts sah er, wie Timur verzweifelt seine Taschenlampe fallen ließ und zur untersten Sprosse hochsprang. Gerade hatte er sie mit beiden Händen gepackt, da schoss das Wasser um ihn herum ein, sodass weiße Gischt den Schacht hinaufspritzte.
    Der Junge lachte. »Wenn du deinen Freund retten willst, musst du mich schon loslassen.«
    Er hatte recht. Leo musste ihn loslassen, hinabklettern und Timur helfen.
    »Sonst stirbt er.«
    Nach Luft schnappend tauchte Timur aus dem Wasser auf und zog sich hoch. Dann hängte er seinen Arm in die nächste Sprosse ein und kletterte aus der Gischt. Sein Körper war immer noch unter Wasser, aber er hatte festen Halt. Er sah zu Leo hoch. »Alles klar.«
    Erleichtert blieb Leo, wo er war, und hielt weiter das Fußgelenk des Jungen umklammert, der wie wild um sich trat. Timur zog sich bis zu Leo hoch, nahm ihm die Taschenlampe aus dem Mund und richtete sie auf das Gesicht des Jungen.
    »Wenn du noch einmal zutrittst, breche ich dir das Bein.«
    Der Junge hörte auf. Timur hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er es ernst meinte.
    Leo befahl ihm: »Wir klettern jetzt zusammen hoch bis zum nächsten Absatz. Und zwar langsam, verstanden?«
    Der Junge nickte. Mühsam kletterten alle drei nach oben, ein Gewirr von Armen und Beinen, das aussah wie eine missgestaltete Spinne.
    Oben an der Leiter wartete Leo, das Fußgelenk des Jungen umklammert, bis Timur über sie beide hinübergeklettert war und den Gang über ihnen erreicht hatte.
    »Lass ihn los.«
    Leo ließ das Bein los und kletterte hinterher. Timur hielt die Arme des Jungen auf den Boden gedrückt. Um seine blutigen Handflächen zu schonen, nahm Leo die Taschenlampe mit spitzen Fingern und richtete sie auf das Gesicht des Jungen. »Deine einzige Chance, am Leben zu bleiben, ist, mit mir zu reden. Du hast einen sehr wichtigen Mann umgebracht. Eine Menge Leute werden wollen, dass du hingerichtet wirst.«
    Timur schüttelte nur den Kopf. »Du verschwendest deine Zeit. Schau dir mal seinen Hals an.«
    Am Hals des Jungen prangte eine Tätowierung. Es war ein orthodoxes Kreuz.
    »Er gehört einer Bande an«, erklärte Timur. »Der würde eher sterben, als den Mund aufzumachen.«
    Der Junge grinste. »Du bist hier unten. Aber da oben ist deine Frau ... Raisa ...«
    Leo reagierte sofort. Er zerrte den Jungen am Hemd hoch, zog ihn von Timur weg und hob ihn von den Beinen. Auf so eine Gelegenheit hatte der Junge nur gewartet. Wie

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