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Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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stehen. Sergej rührte sich nicht, er blieb an der Tür.
    »Viele der Kinder sind unwissend, wenn sie zu uns kommen. Du wirst noch lernen. Ich hoffe, dass eines Tages Gott den Platz dieses Spielzeugs einnimmt, das du so lieb hast.«
    Statt einer Antwort verriegelte der Junge zu Krassikows Erstaunen die Tür. Noch bevor Krassikow fragen konnte, was das sollte, zog er aus dem abgebrochenen Schweineohr einen Draht hervor. Im nächsten Moment hob er die Figur über den Kopf und schleuderte sie dann mit aller Kraft zu Boden. Instinktiv wandte Krassikow sich ab, um nicht getroffen zu werden. Aber die Tonfigur zerbarst nur zu seinen Füßen in mehrere ungleich große Stücke. Entsetzt starrte er die Tonscherben an. Neben den Überresten des Schweins lag da noch etwas anderes, rund und schwarz. Krassikow beugte sich vor und hob es auf. Es war eine Taschenlampe.
    Verwirrt versuchte er sich wieder aufzurichten, aber bevor ihm das gelang, wurde ihm eine Schlinge über den Kopf gestreift, ein dünner Stahldraht mit Schlaufe. Das andere Ende des Drahtes hielt der Junge, er hatte sich den Draht um die Hand gewickelt. Jetzt zog er an. Der Draht straffte sich, und Krassikow röchelte, als ihm die Luft abgeschnürt wurde. Sein Gesicht wurde puterrot, das Blut war gestaut. Seine Finger glitten über den Draht, aber er schaffte es nicht darunterzufassen und die Schlinge zu weiten.
    Der Junge zog fester, dann sprach er Krassikow in ruhigem, gelassenen Tonfall an, ohne eine Spur seines vorherigen Gestotters. »Wenn du ehrlich antwortest, bleibst du am Leben.«

    Am Eingang des Kinderheims wurde Leo und Timur von zwei Wärtern der Zutritt verwehrt. Entnervt von dieser Verzögerung zeigte Leo den Männern das Foto von Lasar und redete auf sie ein. »Jeder, der etwas mit der Verhaftung dieses Mannes zu tun gehabt hat, ist in Gefahr. Zwei Männer sind bereits tot. Wir glauben, dass der Patriarch in Gefahr ist.«
    Die Wärter ließen sich nicht beeindrucken. »Wir geben es weiter.«
    »Wir müssen sofort mit ihm sprechen!«
    »Auch wenn Sie von der Miliz sind, der Patriarch hat uns Anweisung gegeben, niemanden einzulassen.«
    Plötzlich hörte man von oben tumultartigen Lärm und Schreie. Von einem Moment zum anderen verwandelte sich die Selbstgefälligkeit der Wärter in Panik. Sie verließen ihren Posten, rannten, gefolgt von Leo und Timur, die Treppe hinauf und sprengten in einen großen Saal voller Kinder. Ein Knäuel von Mitarbeitern umringte eine Tür und rüttelte vergebens daran. Die Wärter stürzten sich ins Getümmel und zerrten am Türgriff, dabei prasselten alle möglichen Erklärungen auf sie ein.
    »Mit dem neuen Jungen.«
    »Krassikow antwortet nicht.«
    »Irgendwas ist zerdeppert.«
    Leo beendete das Geschnatter: »Tretet die Tür ein!« Unsicher wandten sie sich zu ihm um. »Schnell!«
    Der Schwerste und Stärkste der Wärter drängte sich nach vorn und ließ seine Schulter gegen den Türrahmen krachen. Beim zweiten Versuch brach die Tür auf.
    Leo und Timur kletterten durch die aufgesplitterte Lücke in den Raum. Eine junge Stimme rief in ebenso gebieterischem wie selbstsicherem Ton: »Bleibt, wo ihr seid!«
    Die Wärter blieben wie angewurzelt stehen - unerschrockene Männer, die nichts gegen das unternehmen konnten, was sie da vor sich sahen.
    Der Patriarch hockte ihnen zugewandt auf den Knien, sein Gesicht war krebsrot. Der Mund war aufgerissen, die Zunge hing abstoßend heraus wie eine zusammengerollte Schnecke. Sein Hals wurde von einem dünnen Stahldraht zusammengequetscht, der bis hin zu dem Jungen lief. Der Junge hatte seine Finger mit Lappen umhüllt und darum in mehreren Windungen den Draht gewickelt. Wie ein Herrchen mit seinem Hund stand er da und übte eine absolute, tödliche Kontrolle aus. Wenn er den Draht nur noch ein kleines bisschen mehr spannte, würde er den Patriarchen entweder erwürgen oder ihm tief in die Kehle schneiden.
    Vorsichtig machte der Junge einen Schritt zurück und hielt dabei den Draht weiter straff, er lockerte ihn keine Sekunde. Jetzt war er schon fast am Fenster. Leo löste sich aus der Gruppe der Wärter, die von ihrem eigenen Versagen wie gelähmt waren. Etwa zehn Meter lagen noch zwischen ihm und dem Patriarchen. Leo konnte es nicht riskieren vorzupreschen. Selbst wenn er den Patriarchen erreichte, würde er nie und nimmer seine Finger unter den Draht bekommen.
    Der Junge schien Leos Überlegungen zu ahnen und sagte: »Noch einen Schritt, und er ist tot.«
    Er riss das kleine

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