Kolyma
Fenster auf und kletterte auf den Sims. Sie befanden sich im ersten Stock, zu hoch zum Springen.
»Was willst du?«, fragte Leo.
»Dass dieser Mann um Verzeihung bittet, dass er Priester verraten hat. Priester, die er eigentlich beschützen sollte.«
Der Junge sprach, als ob er seinen Text auswendig gelernt hatte. Leo warf dem Patriarchen einen raschen Blick zu. Die Bedrohung seines Lebens würde ihn bestimmt gefügig machen. Der Junge hatte den Auftrag, ihm eine Entschuldigung abzupressen. Wenn er deshalb hergekommen war, dann würde der Patriarch gehorchen. Das war der einzige Spielraum, den Leo hatte.
»Er wird sich entschuldigen. Lockere den Draht. Lass ihn sprechen. Deshalb bist du doch hergekommen.«
Nickend bestätigte der Patriarch, dass er die Bedingung erfüllen würde. Der Junge überlegte kurz, dann lockerte er die Schlinge. Krassikow keuchte und atmete mühsam ein.
Unüberwindliche Widerstandskraft blitzte in den Augen des alten Mannes auf, und Leo erkannte, dass er sich vollkommen verschätzt hatte. Der Patriarch sammelte die letzten Kräfte und spuckte seine Worte buchstäblich aus.
»Wer immer dich geschickt hat, sag ihm ... dass ich ihn ... wieder verraten würde!«
Die Blicke aller anderen schossen zu dem Jungen hinüber. Aber der war schon weg. Er war aus dem Fenster gesprungen.
Der Draht peitschte hoch, als plötzlich das ganze Gewicht des Jungen am Hals des alten Mannes zerrte und den Patriarchen mit solcher Wucht zurückriss, dass er von den Knien hochschoss wie eine Marionette an ihren Fäden. Dann fiel er auf den Rücken und wurde über den Boden geschleift, bis er schließlich in das kleine Fenster krachte und sein Körper sich im Rahmen verkeilte. Leo sprang vor und griff nach dem Draht, der den Hals des Patriarchen abschnürte. Er versuchte ihn zu lockern, aber der Draht hatte bereits die Haut durchgeschnitten und die Muskeln durchtrennt. Leo war machtlos.
Er warf einen Blick aus dem Fenster und entdeckte den Jungen unten auf der Straße. Ohne ein Wort rannten Leo und Timur aus dem Zimmer und ließen die bestürzten Wärter zurück. Sie durchquerten den Hauptsaal mit der Kinderschar und stürzten nach unten. Der Kerl war geschickt und flink, aber er war auch noch jung und bestimmt nicht schneller als sie.
Als sie die Straße erreichten, war er wie vom Erdboden verschluckt. In der näheren Umgebung gab es weder Seitengassen noch Kurven, und in der kurzen Zeit, die sie bis nach draußen gebraucht hatten, konnte er unmöglich die ganze Straße hochgelaufen sein. Leo rannte zu dem Fenster, aus dem noch der Draht hing. Er fand die Fußabdrücke des Jungen und folgte ihnen bis zu einem Kanaldeckel. Der Schnee war beiseitegeschoben worden. Timur hob den Deckel hoch. Das Loch war tief, eine Eisenleiter führte hinab in die Kanalisation. Der Junge war schon fast unten, die Hände hatte er immer noch mit Lappen umwickelt. Als er die Helligkeit über sich wahrnahm, spähte er kurz nach oben, und sein Gesicht schien im Tageslicht auf. Sobald er Leo sah, ließ er die Leiter los und ließ sich fallen, dann verschwand er in der Finsternis.
Leo drehte sich Timur zu. »Hol die Taschenlampen aus dem Wagen.«
Ohne abzuwarten, griff Leo nach der Leiter und kletterte hinab. Die eisernen Leitersprossen waren eiskalt, und ohne Handschuhe blieb seine Haut an ihnen kleben. Jedes Mal, wenn er seinen Griff löste, riss sie ein. Im Wagen lagen Handschuhe, aber er konnte seine Verfolgung jetzt nicht unterbrechen. Die Kanalisation war ein Labyrinth aus Tunneln, und in jedem konnte der Junge verschwinden. Leo biss vor Schmerzen die Zähne zusammen. Seine Handflächen fingen an zu bluten, weil immer mehr Hautfetzen abgerissen wurden. Tränen schossen ihm in die Augen. Er blinzelte nach unten und schätzte die restliche Strecke ab. Zum Springen war er noch zu hoch, er musste weiterklettern und das rohe Fleisch gegen den eiskalten Stahl pressen. Leo schrie auf und ließ die Leiter los.
Er kam unglücklich auf einem Betonvorsprung auf, glitt aus und wäre beinahe in einen Abwasserkanal gestürzt. Als er festen Tritt gefunden hatte, blickte er sich prüfend um. Es war ein großer Backsteintunnel, etwa in der Größe eines U-Bahntunnels. Das Sonnenlicht aus dem Schacht über ihm erhellte zwar ein Stückchen Erde um ihn herum, aber kaum mehr. Vor ihm herrschte Stockfinsternis bis auf ein flackerndes Licht etwa fünfzig Meter vor ihm, es sah aus wie ein Glühwürmchen. Das war der Junge. Er hatte eine Taschenlampe,
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