Kolyma
darüber sprechen wollen, weil so hart durchgegriffen worden war. Das Thema würde verschwinden wie ein sinkendes Schiff auf See, an dem andere Schiffe vorbeifuhren, während sämtliche Passagiere in die entgegengesetzte Richtung schauten.
Karl dachte über den Vorschlag nach. Schließlich fragte er: »Und Sie würden sich um alles kümmern, was es zu regeln gäbe?«
»Ja.«
»Auch die Sache mit den zuständigen Behörden besprechen? Haben Sie Verbindungen zum Bildungsministerium?«
»Leo bestimmt, da bin ich mir sicher.«
»Und ich muss nicht mit Soja reden? Ich muss mich überhaupt nicht mit ihr abgeben?«
Raisa schüttelte den Kopf. »Ich nehme einfach nur meine Tochter und verschwinde von hier. Sie machen weiter wie gehabt, als wäre ich nie da gewesen. Morgen werden weder Soja noch ich zum Unterricht erscheinen.«
Karl warf Julia einen vielsagenden Blick zu, der bedeutete, dass er dafür war. Jetzt kam es auf sie an.
Raisa wandte sich ihrer Freundin zu. »Julia?« Sie kannten sich jetzt schon seit drei Jahren. Oft hatten sie sich gegenseitig geholfen. Sie waren Freundinnen. Julia nickte. »Ich denke, das wäre wohl das Beste.« Es war das letzte Mal, dass sie miteinander sprachen.
Im Flur vor dem Büro wartete Soja. Lässig lehnte sie an der Wand, so als habe sie nur ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ihre Hand war verbunden, der Schnitt hatte heftig geblutet. Nachdem der Kuhhandel perfekt war, schloss Raisa die Bürotür hinter sich und lehnte sich dagegen. Plötzlich war sie nur noch erschöpft. Sie war gerade noch einmal davongekommen. Jetzt kam es auf Leo an. Raisa ging zu Soja: »Komm, gehen wir nach Hause.«
»Mein Zuhause ist das nicht.«
Keine Dankbarkeit. Nichts als Verachtung. Raisa war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Als sie das Schulgebäude verließen, blieb Raisa am Tor stehen. Waren sie so schnell verraten worden? Zwei uniformierte Beamte kamen auf sie zu. »Raisa Demidowa?«
Der Ältere der beiden übernahm das Reden. »Wir sind von Ihrem Mann geschickt worden, um Sie nach Hause zu begleiten.«
»Was ist los?«
»Ihr Mann will sichergehen, dass Ihnen nichts passiert. Die Einzelheiten kann ich Ihnen leider nicht erklären, außer dass sich eine Reihe von Vorfällen ereignet hat. Unsere Anwesenheit ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.«
Raisa überprüfte ihre Ausweise. Sie waren in Ordnung.
»Arbeiten Sie für meinen Mann?«, fragte sie.
»Wir gehören zu seinem Morddezernat.«
Da das Dezernat geheim war, tat schon dieses Eingeständnis das Seine, um Raisas Argwohn zu bestärken. Sie reichte die Ausweise zurück und sagte zu den Männern: »Wir müssen Elena noch abholen.«
Während sie zum Wagen liefen, zerrte Soja an ihrer Hand. Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Ich traue ihnen nicht.«
* * *
Als Karl wieder allein in seinem Büro war, starrte er aus dem Fenster.
Die Zeiten ändern sich schnell.
Vielleicht stimmte das ja. Er wollte es so gerne glauben und die ganze Geschichte ad acta legen, so wie sie es besprochen hatten. Er hatte Raisa immer gemocht. Sie war intelligent und schön, und er wünschte ihr nur das Beste. Dann griff er nach dem Telefonhörer und überlegte, mit welchen Worten er ihre Tochter am besten denunzierte.
Am selben Tag
Zornig blitzte Soja im Fond des Wagens die Milizbeamten an und verfolgte jede ihrer Bewegungen, als sei sie mit zwei Giftschlangen zusammengesperrt. Der Beamte auf dem Beifahrersitz hatte sich zwar um eine oberflächliche Freundlichkeit bemüht, sich umgedreht und die Mädchen angelächelt, doch an beiden war sein Lächeln abgeprallt. Für Soja gab es zwischen KGB und Miliz keinen Unterschied. Sie verabscheute diese Männer, sie hasste ihre Uniformen und Rangabzeichen, ihre Ledergürtel und die schwarzen Stiefel mit den Stahlkappen.
Raisa sah aus dem Fenster, um herauszufinden, wo in der Stadt sie waren. Der Abend war hereingebrochen, und flackernd gingen die Straßenlaternen an. Raisa, die nicht gewohnt war, im Auto nach Hause zu fahren, versuchte zu erkennen, wo sie sich befanden. Das war doch gar nicht der Weg zu ihrer Wohnung. Bemüht, dass man ihr die innere Unruhe nicht anhörte, beugte sie sich vor und fragte: »Wohin fahren wir?«
Der Beamte auf dem Beifahrersitz drehte sich um, sein Gesicht war ausdruckslos. Unter seinem Rücken knarzte die Lederpolsterung.
»Wir bringen Sie nach Hause.«
»Das ist aber gar nicht die richtige Richtung.«
Soja schnellte vor: »Lassen Sie uns raus!«
Der Beamte zog eine
Weitere Kostenlose Bücher