Kolyma
ein Aal schlüpfte er aus seinem Hemd, ließ sich zu Boden fallen und hechtete zur Seite - Leo hielt von einem Moment auf den anderen nur noch sein Hemd in Händen. Mit der Taschenlampe suchte er den Schacht ab und entdeckte den Jungen, der am Rand des Schachtes kauerte. Dann machte er einen Schritt vor und stürzte sich in das Wasser unter ihm. Leo warf sich auf ihn, aber zu spät. Er stierte nach unten, doch von dem Jungen gab es keine Spur mehr. Er war in den reißenden Fluss gefallen und weggetrieben worden.
Verzweifelt suchte Leo die Umgebung ab: ein Betontunnel ohne irgendeine Öffnung. Raisa war in Gefahr. Und hier war kein Herauskommen.
Am selben Tag
Raisa saß dem Schuldirektor Karl Enukidse gegenüber, einem freundlichen Mann mit grauem Bart. Auch Sojas Lehrerin Julia Peschkowa war dabei. Karl hatte die Hände unter seinem Kinn verschränkt und kratzte sich ausgiebig den Bart. Dabei sah er abwechselnd Raisa und Julia an. Julia versuchte jeden Augenkontakt zu vermeiden, biss sich auf die Lippen und wünschte sich nur weg von hier. Raisa konnte ihre Angst verstehen. Wenn die Zerstörung des Stalin-Bildes untersucht wurde, würde Soja vom kgb in die Mangel genommen werden. Aber die anderen auch. Man würde sich fragen, wer daran schuld war. War dem Kind der Vorwurf zu machen oder den Erwachsenen, die es beeinflusst hatten? War Karl ein Subversiver, der seine Schüler anstatt zu glühendem Patriotismus zu regimekritischem Verhalten anleitete? Fehlte es Julias Unterricht an sowjetischer Prägung? Fragen würden aufkommen über Raisas Befähigung als Vormund. Rasch rechneten sich alle die möglichen Konsequenzen aus.
Raisa brach das Schweigen. »Wir benehmen uns, als sei Stalin noch am Leben. Aber die Zeiten ändern sich schnell. Heute ist keinem mehr danach, ein vierzehnjähriges Kind zu denunzieren. Ihr habt doch die Rede gelesen. Chruschtschow gibt zu, dass die Verhaftungen zu weit getrieben wurden. Wir müssen doch eine interne Schulangelegenheit nicht gleich nach oben melden. Das können wir unter uns regeln. Worum geht es hier denn überhaupt? Doch nur um ein verstörtes junges Mädchen, für das ich die Verantwortung trage. Lasst mich ihr helfen.«
Aber nach der Reaktion der beiden anderen zu urteilen, ließ sich lebenslange Leisetreterei nicht einfach durch eine einzige Rede wegwischen, egal, wer sie gehalten und was er gesagt hatte.
Daher wechselte Raisa die Strategie. »Es wäre am besten, wenn der Vorfall gar nicht erst gemeldet würde.«
Julia hob den Kopf. Karl lehnte sich zurück. Eine neue Runde des Abwägens setzte ein. Raisa hatte versucht, die Sache unter den Teppich zu kehren. Dieser Vorschlag ließ sich gegen sie verwenden.
Julia reagierte. »Wir sind nicht die Einzigen, die wissen, was passiert ist. Die Schüler in meiner Klasse haben alles mitbekommen. Es sind über dreißig. Mittlerweile haben die doch längst mit ihren Freunden gesprochen, also wissen es noch mehr. Und die Zahl wird weiter steigen. Ich wäre überrascht, wenn morgen nicht die ganze Schule darüber spricht. Die Nachricht wird sich über die Schulgrenzen hinaus verbreiten, die Eltern werden es erfahren und wissen wollen, warum wir nichts unternommen haben. Was sollen wir dann sagen? Dass wir die Sache nicht für so wichtig gehalten haben? Das können wir doch gar nicht entscheiden, Raisa. Da müssen wir uns auf den Staat verlassen. Die Leute werden es mitbekommen, Raisa, und wenn wir nicht reden, dann macht es sonst jemand.«
Sie hatte recht. Die Sache zu verheimlichen war unmöglich. In die Defensive geraten, konterte Raisa: »Und wie wäre es, wenn Soja die Schule mit sofortiger Wirkung verlässt? Ich würde mit Leo sprechen und der mit seinen Kollegen, wir würden eine andere Schule für Soja finden. Dass ich ebenfalls den Dienst quittieren würde, versteht sich von selbst.«
Dass Soja ihre Ausbildung hier fortsetzen konnte, war ohnehin aussichtslos. Die anderen Schüler würden sie schneiden. Sie würden nicht mehr mit ihr sprechen, viele würden nicht einmal mehr neben ihr sitzen wollen. Die Lehrer würden sie nicht mehr in ihrer Klasse haben wollen. So sicher, als hätte man ihr ein Kreuz auf den Rücken geschmiert, war Soja von jetzt an eine Ausgestoßene.
»Ich schlage vor, dass Sie, Karl Enukidse, über unseren Abgang keine Meldung machen. Wir sind einfach nicht mehr da, fertig.«
Die anderen Schüler und Lehrer würden annehmen, dass man sich um die Angelegenheit »gekümmert« hatte. Niemand würde
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