Kolyma
Visage. »Was?«
Soja fragte nicht zweimal. Während der Wagen noch fuhr, zog sie an der Verriegelung und stieß die Tür mitten auf der Straße auf. Grelle Scheinwerfer blitzten durchs Fenster, als ein entgegenkommender Laster ausbrach, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.
Raisa packte Soja, umklammerte ihre Taille und zog sie gerade noch rechtzeitig wieder hinein, bevor der Laster die offene Tür streifte und zuknallte. Durch den Aufprall wurde das Blech eingedellt und das Fenster zerschmettert, Glassplitter regneten ins Wageninnere. Die Beamten brüllten, Elena schrie. Der Wagen knallte über die Bordsteinkante und schoss auf den Bürgersteig, wo er schlitternd am Rand zum Stehen kann.
Eine benommene Stille folgte. Blass und keuchend drehten die beiden Beamten sich um. »Was ist denn mit der los?«
Der Fahrer tippte sich an die Stirn: »Die ist wohl nicht ganz richtig im Kopf.«
Raisa achtete nicht auf sie, sondern untersuchte Soja. Sie war unverletzt, aber ihre Augen glühten. Etwas Unbändiges ging von ihr aus wie die Urkräfte eines Wildkindes, das bei Wölfen aufgewachsen und jetzt von Menschen gefangen worden war, sich aber nicht zähmen und zivilisieren lassen wollte.
Der Fahrer stieg aus und nahm die beschädigte Tür in Augenschein. Dann kratzte er sich kopfschüttelnd den Schädel.
»Wir bringen Sie doch nur nach Hause? Wo liegt denn da ein Problem?«
»Das ist nicht der richtige Weg.«
Der Beamte holte einen Zettel aus der Tasche und reichte ihn Raisa durch das Loch, in dem einmal das Fenster gewesen war. Es war Leos Handschrift. Verdutzt las Raisa die Adresse, bis sie merkte, dass es die der Wohnung von Leos Eltern war. Ihr Zorn verrauchte. »Da wohnen Leos Eltern.«
»Ich wusste nicht, wessen Wohnung das ist. Ich führe nur meine Befehle aus.«
Soja wand sich aus der Umklammerung und kletterte über ihre Schwester hinweg aus dem Wagen. Raisa rief ihr nach. »Soja, es ist alles in Ordnung!«
Soja ließ sich nicht beeindrucken und kam nicht zurück. Der Fahrer ging auf sie zu. Als Raisa sah, dass er sie packen wollte, schrie sie: »Rühren Sie sie nicht an! Lassen Sie sie in Ruhe! Wir gehen den Rest zu Fuß.«
Der Fahrer schüttelte wieder den Kopf. »Wir haben aber Befehl, bei Ihnen zu bleiben, bis Leo kommt.«
»Dann fahren Sie eben hinter uns her. Wir steigen nicht wieder in den Wagen.«
Elena saß immer noch weinend auf der Rückbank. Raisa legte einen Arm um sie. »Soja geht es gut. Ihr ist nichts passiert.«
Elena schien diese Worte abzuwägen, dann sah sie ihre Schwester an. Als sie sah, dass Soja unverletzt war, versiegten die Tränen.
Die letzten wischte Raisa ihr weg. »Wir gehen zu Fuß weiter. Es ist nicht mehr weit. Schaffst du das?«
Elena nickte. »Ich mag es nicht, wenn man mich nach Hause fährt.«
Raisa lächelte. »Ich auch nicht.«
Raisa half Elena aus dem Wagen. Entnervt über diesen Exodus der Fahrgäste rang der Fahrer die Hände.
Leos Eltern wohnten in einem niedrigen Bau im Norden der Stadt, zusammen mit zahlreichen anderen Senioren, deren Kinder Staatsbeamte waren. Es handelte sich um eine Art Altenheim für Privilegierte. Im Winter spielten die Einwohner miteinander im Wohnzimmer des einen oder anderen Karten, im Sommer spielten sie draußen auf dem Rasen Karten. Sie gingen zusammen einkaufen, kochten zusammen - eine Gemeinschaft mit nur einer Regel: Nie sprachen sie über die Arbeit ihrer Kinder.
Raisa betrat das Gebäude und führte die Kinder zum Aufzug. Just als die Milizbeamten sie einholten, schlossen sich die Türen, sodass die Polizisten die Treppe nehmen mussten. Nie und nimmer hätte Soja es auf so engem Raum mit den beiden Männern ausgehalten. Als sie im siebten Stock ankamen, führte Raisa die Mädchen durch den Flur bis zur letzten Wohnung. Leos Vater Stepan öffnete die Tür, er war überrascht, sie zu sehen. Schnell verwandelte sich seine Überraschung in Sorge. »Was ist denn los?«
Leos Mutter Anna kam aus dem Wohnzimmer, auch sie war besorgt.
Raisa erklärte den beiden: »Leo will, dass wir hierbleiben.« Sie deutete auf die Polizisten, die sich vom Treppenhaus her näherten, und fügte hinzu: »Wie haben eine Eskorte dabei.«
»Wo ist Leo? Was ist los?« Angst lag in Annas Stimme. Raisa schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Die Beamten erschienen an der Tür. Der Ältere der beiden, der auch den Wagen gefahren hatte, war noch ganz außer Atem vom Treppensteigen.
»Gibt es noch einen Zugang zu dieser Wohnung?«, fragte
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