Koma
und Dr. Billing atmete auf. Er gestattete sich sogar den Luxus, mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn zu wischen. Er sah auf den Natrium-Kalk-Behälter. Die Absorption des Kohlendioxyds schien normal zu verlaufen. Es war 7 Uhr 56. Mit der rechten Hand schob Dr. Billing Nancys Augenlider nach oben. Sie bewegten sich widerstandslos. Beide Pupillen waren extrem erweitert. Dr. Billing merkte, wie Angst über ihm zusammenschlug. Irgend etwas war geschehen. Etwas sehr Schlimmes.
Montag
23. Februar
7 Uhr 15
Kleine Wolken von Schneeflocken tanzten in der Morgendämmerung des 23. Februar 1976 über die Longwood Avenue. Das Thermometer stand unter Null, und die luftigen Kristallgebilde überlebten sogar den Kontakt mit dem Straßenpflaster. Eine graue niedrige Wolkendecke verhüllte die Sonne und tauchte die erwachende City in ein dumpfes Licht. Und der Seewind trieb immer mehr Wolken herein; die Spitzen der Hochhäuser von Boston entzogen sich im Nebel dem Blick. Obwohl die Sonne höherstieg, wurde es in der Stadt von Minute zu Minute düsterer. Der Schnee stand nicht auf dem Programm, und es waren eigentlich auch nur ein paar Flockenwirbel, die von Cohasset in die City hineingeblasen wurden, über die Longwood Avenue und die Avenue Louis Pasteur, bis ein Windstoß die letzten Überlebenden der kleinen weißen Armee gegen ein Fenster im dritten Stock des Studentenwohnheims der Medizinischen Fakultät trieb. An den glatten Scheiben konnten sie sich nur dank der dicken Schicht typischen Bostoner Drecks halten, wenigstens so lange, bis die Wärme von drinnen ihrem flüchtigen Dasein ein wäßriges Ende setzte.
In ihrem Zimmer war Susan Wheeler in völliger Unkenntnis des Dramas an der Fensterscheibe. Sie hatte ohnehin anderes im Kopf. Im Moment suchte sie sich den Klauen eines schrecklich wirren Traumes zu entziehen, der ihre lange, unruhige und weitgehend schlaflose Nacht beendet hatte. Für sie würde dieser 23. Februar bestenfalls ein schwieriger Tag werden, wenn nicht gar eine Katastrophe. Das Medizinstudium besteht aus tausend kleinen Krisen, hier und da unterbrochen von wahren Weltuntergängen. Für Susan Wheeler stand so gut wie fest, daß der 23. Februar in die letzte Kategorie gehörte. Fünf Tage zuvor hatte sie ihre ersten beiden Studienjahre beendet, die medizinische Grundausbildung in den Hörsälen und wissenschaftlichen Labors, zwischen Büchern und anderen leblosen Gegenständen. Susan Wheeler war erfolgreich, daran gab es keinen Zweifel, in Seminaren, Labors und bei ihren Referaten war sie kaum zu schlagen gewesen. Ihre Aufzeichnungen waren weithin berühmt, die Kommilitonen rissen sich darum. Zuerst hatte Susan Wheeler sie freigebig ausgeliehen. Später, als sie sich auch hier dem Wettbewerbsdruck ausgesetzt fühlte, den sie mit Absolvierung der High-School hinter sich geglaubt hatte, hielt sie sich zurück, und nur noch die kleine Gruppe ihrer Freunde kam in den Genuß der begehrten Unterlagen oder aber solche Studiengenossen, die ihr selbst mit Niederschriften aushelfen konnten, wenn sie einmal eine Vorlesung versäumte. Doch das kam selten vor.
Manche Kommilitonen zogen Susan mit ihrem Vorlesungsrekord auf, aber sie erwiderte meist, sie sei nicht begabt genug, um sich Ausfälle leisten zu können. Natürlich war das nicht der wahre Grund. In einem Beruf, in dem die Männer dominierten und ausnahmslos alle Professoren und Tutoren männlichen Geschlechts waren, konnte Susan Wheeler kein Seminar, keinen Kurs und kaum eine Vorlesung auslassen, ohne daß ihr Fehlen auffiel. Zwar betrachtete Susan ihre Lehrer überhaupt nicht unter dem geschlechtlichen Aspekt und sah sie eher als Neutren an, eben als Ausbilder und berufliche Vorgesetzte, doch in deren Augen stellte es sich anders dar. Das lag daran, daß Susan Wheeler ein äußerst attraktives dreiundzwanzig Jahre altes weibliches Wesen war.
Sie hatte seidenweiches blondes langes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Das Gesicht war breit, mit hohen Backenknochen; die Augen lagen tief und zeigten je nach Lichteinwirkung eine reizvolle Mischung aus Blau und Grün mit braunen Punkten. Dazu kamen gerade, blendend weiße Zähne, die unter der Anleitung ihres heimischen Zahnarztes sorgfältig gepflegt worden waren.
Alles in allem war Susan Wheeler eine Erscheinung, von der Pepsi-Cola-Werbeleute träumten. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren war sie jung, gesund und sexy und obendrein (manche würden sagen: trotz alledem) außergewöhnlich
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