Koma
intelligent. Susan Wheelers Intelligenzquotient hatte zum Stolz ihrer Eltern schon in der Volksschule bei 140 gelegen. Die Reihe der Einser in ihren Zeugnissen nahm sich geradezu monoton aus. Susan liebte die Schule, das Lernen, und es machte ihr Spaß, ihren Verstand einzusetzen. Radcliffe High School war ihr wie auf den Leib geschneidert gewesen. Sie erntete Lorbeeren und hatte sie sich verdient. Neben ihren naturwissenschaftlichen Hauptfächern war sie stets um eine gute Allgemeinbildung bemüht gewesen. Sie hatte keinerlei Probleme gehabt, zum Medizinstudium zugelassen zu werden.
Doch wenn ein Mädchen so hübsch war wie Susan, mußte es auch Nachteile in Kauf nehmen. Da war zum Beispiel die Schwierigkeit, einen Kurs zu schwänzen, ohne daß es auffiel. Und immer, wenn die Herren Lehrmeister Wissen abfragten, gehörte Susan zu den Unglücksraben, die dazu herhalten mußten, die Dummheit der Studenten und die Brillanz der Professoren unter Beweis zu stellen. Ein weiterer Nachteil: Die Leute neigten dazu, sich vorschnell ein Urteil über Susan zu bilden. Sie sah den Mädchen auf den Reklameplakaten so ähnlich, daß die gängige Proportionsrechnung zwischen Körperformen und Kopfinhalt sich aufdrängte.
Erst nach und nach wurde sich Susan bewußt, daß ihr Erscheinungsbild auch Vorteile mit sich brachte. Wer hübsch und gescheit war, brauchte bei einem schwierigen Thema nur zu fragen, und Professoren wie Tutoren überschlugen sich geradezu, Susan die Feinheiten gewisser Drüsenfunktionen oder pathologischer Befunde zu erklären.
In puncto Privatleben verhielt sich Susan zurückhaltender, als man es einem Mädchen ihres Aussehens zutrauen mochte. Dafür gab es im wesentlichen zwei Gründe: Erstens saß Susan lieber in ihrem Zimmer und las, anstatt sich mit einem langweiligen Jüngling abzugeben, und bei ihrer Intelligenz erschienen ihr erschreckend viele Jünglinge langweilig; und zweitens brachten nur wenige Männer den Mut auf, sich an sie heranzumachen. Die Kombination von Sex und Köpfchen hatte eine einschüchternde Wirkung. So verbrachte Susan die meisten Samstagabende lesend in ihrem Zimmer.
Am Morgen dieses 23. Februar sah Susan ihre heimelige Studentenwelt bedroht. Susan Wheeler und mit ihr hunderteinundzwanzig Kommilitonen wurden rüde aus den sicheren Bahnen des theoretischen Lernens herausgerissen und in die garstige Praxis gewirbelt: Die klinischen Studienjahre begannen. Was zählten schon alle Bücher- und Laborweisheiten, wenn man sie an lebenden Patienten erproben mußte?
Susan Wheeler machte sich keinerlei Illusionen. Was es hieß, Arzt zu sein, Menschen zu heilen, davon hatte sie so gut wie kaum eine Ahnung. Und sie bezweifelte, daß sich das je ändern würde. Sie wußte, man konnte sich das nicht anlesen oder methodisch anlernen, und das alte Sprichwort vom Sprung ins kalte Wasser lag ihrer Mentalität fern. Trotzdem: Noch an diesem 23. Februar würde sie auf die eine oder andere Weise mit Patienten konfrontiert werden. Susan durchlebte eine Krise ihres Selbstvertrauens, und das war auch der Grund für ihre unruhige Nacht und die bizarren Träume, in denen sie mutterseelenallein durch Irrgärten getaumelt war. Susan Wheeler hatte keine Ahnung, wie sehr diese Träume sich in den folgenden Tagen bewahrheiten würden.
Um 7 Uhr 15 riß der Radiowecker sie aus ihren Halbträumen, zwang sie, sich auf die Realitäten des Tages einzustellen. Sie drehte das Radio ab, bevor die Automatik das kleine Zimmer mit Schlagermusik überfluten konnte. Sonst brauchte sie das, um wach zu werden, aber an diesem Morgen hatte sie keinen Bedarf. Ein solcher Tag kam von selbst.
Sie setzte sich auf die Bettkante. Der Boden unter ihren Füßen war kalt und wenig einladend. Mürrisch musterte sie ihre Umwelt. Viel gab es da nicht zu sehen: das Zimmer, vier mal fünf Meter, zwei Fenster an der Schmalseite, jedes in viele kleine Scheiben unterteilt, mit Blick auf das nächste Backsteingebäude und einen Parkplatz – eine Aussicht, der sich Susan nur selten bediente. Die Wände hatte Susan zwei Jahre zuvor selbst gestrichen: ein angenehm warmes Pastellgelb, abgestimmt auf die Batikgardinen mit grün-blauem Muster. An den Wänden hingen gerahmte Poster.
Die Möbel gehörten dem Studentenheim, und das sah man ihnen auch an. Das altmodische Einzelbett war viel zu weich und als Sitzgelegenheit nicht geeignet. Den abgewetzten Lehnstuhl benutzte Susan nur als Ablage für schmutzige Wäsche. Sie las lieber auf dem Bett
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