Koma
und hoffte auf eine menschliche Reaktion, aber sie hoffte vergebens. Die Gestalt saß wie versteinert da. Mit einiger Überwindung fuhr Susan fort:
»Ich muß sogar zugeben, daß meine Unterhaltung mit dem Patienten nicht auf rein berufliche Angelegenheiten beschränkt war. Im Gegenteil: Wir hatten vereinbart, uns nach seiner Operation außerhalb des Krankenhauses zu treffen.«
Susan legte noch eine Pause ein und wartete wieder vergebens. Dr. Harris schwieg.
»Ich möchte damit nur mein Verhalten im Aufwachsaal erklären. Ich war völlig erledigt.«
»Und da zogen Sie sich auf die Bastionen Ihres Geschlechts zurück«, kommentierte Dr. Harris mit herablassender Arroganz.
»Wie bitte?« Susan hatte die Worte verstanden, weigerte sich aber, ihren Sinn zu akzeptieren.
»Ich sagte: Da zogen Sie sich auf die Bastionen Ihres Geschlechts zurück.«
Susan fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Ich weiß nicht, wie ich das verstehen soll.«
»Verstehen Sie’s so, wie ich es gesagt habe.«
Diesmal war die Pause ungemütlich. Susan schluckte, dann erklärte sie: »Wenn das Ihre Meinung von Frauen ist, möchte ich ein paar Worte dazu sagen. Daß in solchen Situationen Gefühle nicht ausgeschaltet werden können, ist nur menschlich, ganz unabhängig vom Geschlecht. Ich gebe allerdings zu, mich bei meinem ersten Zusammentreffen mit dem Patienten nicht unbedingt ganz vorschriftsmäßig verhalten zu haben, aber ich glaube, im umgekehrten Fall wäre es nicht anders abgelaufen, wenn ich nämlich die Patientin und er der Arzt gewesen wäre. Gegen menschliche Regungen nicht ganz und gar abgebrüht zu sein, ist doch wohl kein weibliches Geschlechtsmerkmal. Und was die sogenannten menschlichen Schwächen betrifft, na ja, da hab’ ich sehr anschauliche Beispiele hier im Memorial. Da brauche ich mir doch nur anzusehen, wie meine männlichen Kollegen die Schwestern behandeln, ein Musterbeispiel eitler Überheblichkeit. Aber ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um über diese Dinge zu reden. Ich wollte mich für mein Benehmen Ihnen gegenüber entschuldigen, sonst nichts. Daß ich eine Frau bin, bedarf ja wohl keiner Entschuldigung.«
Susan versuchte es ein weiteres Mal mit einer Pause, irgendeine Antwort mußte doch kommen. Schweigen. Susan fühlte Ärger in sich aufsteigen.
Jedes einzelne Wort betonend sagte sie: »Wenn es Sie stört, daß ich eine Frau bin, dann ist das Ihr Problem.«
»Und Sie sind schon wieder unverschämt, meine Liebe.«
Susan stand auf. Von oben betrachtete sie sein Gesicht: die schmalen Augen, die vollen Wangen, das breite Kinn. Das Licht spielte in seinen Haarspitzen und ließ sie wie Filigran aufschimmern.
»Ich sehe, das führt zu nichts. Tut mir leid, daß ich gekommen bin. Auf Wiedersehen, Dr. Harris.«
Susan drehte sich um und klinkte die Tür zum Korridor auf.
»Und warum sind Sie gekommen?« fragte Harris hinter ihr.
Mit der Hand an der Klinke blieb sie stehen, sah auf den Flur hinaus und wog Harris’ Frage ab. Sollte sie gehen oder bleiben? Schließlich drehte sie sich wieder um und sah den Chef-Anästhesisten herausfordernd an.
»Ich dachte, wenn ich mich entschuldige, könnten wir das Kriegsbeil begraben. Und ich hatte die irrationale Hoffnung, Sie würden mir vielleicht helfen wollen.«
»In welcher Hinsicht?« Harris’ Stimme klang jetzt eine Spur natürlicher.
Wieder zögerte Susan und wog das Für und Wider ab. Dann schloß sie die Tür und ging zum Stuhl zurück, setzte sich aber nicht. Sie musterte Harris und kam zu dem Schluß: Zu verlieren hatte sie ohnehin nichts mehr, unfreundlicher konnte er kaum noch werden. Also würde sie den eigentlichen Zweck ihres Besuchs weiterverfolgen.
»Gestern haben Sie gesagt, im zurückliegenden Jahr wären im Anschluß an Anästhesie sechs Fälle von verlängertem Koma aufgetreten, und da kam mir der Gedanke, dieses Phänomen zum Thema meiner Semesterarbeit zu machen. Also gut, ich habe Ihre Angaben voll und ganz bestätigt gefunden. Es hat sechs solcher Fälle gegeben. Aber das ist nicht alles. Im selben Zeitraum ist in den medizinischen Stationen bei fünf Patienten ebenfalls plötzlich und auf ungeklärte Weise Koma aufgetreten. Gestern starben zwei Patienten offensichtlich an Atemstillstand, einfach so. Bei diesen Patienten gab es keinerlei Hinweise auf eine derartige Entwicklung. Beide waren als leichte Fälle aufgenommen worden. Der eine hatte eine ungefährliche Fußoperation, die zu einer Venenentzündung führte, der andere litt
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