Koma
Uhr
Susan zwang sich zu einer normalen Gangart und mied die fragenden Blicke der Entgegenkommenden. Sie hatte Angst, daß man ihr ihre Gefühle vom Gesicht ablesen könnte. Immer wenn sie weinte oder im Begriff war zu weinen, färbten sich ihre Wangen und Augenlider rot. Zwar wußte sie, sie würde sich die Tränen verbeißen, aber die Vorboten ließen sich nicht beeinflussen. Und wenn jemand, der sie kannte, ihr jetzt über den Weg gelaufen wäre, hätte sie wahrscheinlich doch losgeheult wie ein Schloßhund. Also brauchte Susan nichts dringender als ein paar Minuten für sich allein. Genaugenommen war sie jetzt nur wütend und frustriert, nachdem die nackte Angst, die ihr der Zusammenstoß mit Harris eingejagt hatte, allmählich verebbt war. Und Angst in Verbindung mit einem Vorgesetzten erschien ihr so absurd, daß sie sich schon fragte, ob sie am Ende unter Halluzinationen litt. War ihre Rede Harris wirklich so unter die Haut gegangen, daß er sich nur mit Mühe einer Tätlichkeit enthalten konnte? Hatte er sie tatsächlich schlagen wollen, als er hinter dem Schreibtisch hervorstürmte? Der Gedanke kam ihr lächerlich vor. Und sie wußte, es würde ihr nie gelingen, die sie in jenen Augenblicken bewegenden Gefühle einem anderen klarzumachen. Das Ganze erinnerte sie an den Konflikt des Captain Queeg aus der »Meuterei auf der Caine«.
Die einzige Stätte der Zuflucht, die ihr im Augenblick einfiel, war das Treppenhaus. Sie stieß die schwere Metalltür auf, die hinter ihr sofort wieder ins Schloß fiel und sie von dem gleißenden Licht und dem Stimmengewirr des Krankenhauses abschnitt. Plötzlich kam ihr der Schein der nackten Glühbirne über ihr viel wärmer vor, und die Stille im Treppenhaus tat ihren Nerven wohl.
Als Susan merkte, daß sie ihr Notizbuch und den Kugelschreiber immer noch in der Hand hielt, knirschte sie mit den Zähnen und schleuderte beides fluchend auf den nächstunteren Treppenabsatz. Das Notizbuch prallte von einer Stufe ab und fiel mit den Blättern nach unten auf den Boden. Der Kugelschreiber sprang über die Treppe. Das sich schnell entfernende Klicken zeugte von seiner Reise in die Krankenhaus-Unterwelt.
Die Treppe sah als Ruheplatz nicht gerade einladend aus, aber Susan setzte sich auf die oberste Stufe. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, schloß sie fest die Augen. Sie hatte das Gefühl, daß ihr ganzes Weltbild durcheinandergeraten war. Ihre früheren Lehrer und Professoren hatten auf Susans Persönlichkeit nach ihrem eigenen Empfinden stets unvorhersehbar reagiert. Das reichte von ausgesprochen warmherziger Freundlichkeit bis zu kaum verhüllter Feindschaft. Letztere aber drückte sich für gewöhnlich in einer Art passiver Aggressivität aus, ähnlich dem Verhalten von Dr. Nelson. Harris’ Reaktion erschien ihr ganz und gar untypisch. Nelson war zunächst freundlich gewesen, hatte sich dann plötzlich ihren Plänen entgegengestellt. Wieder einmal überkam Susan das Gefühl, das ihr nur zu gut bekannt war, seit sie sich für die Medizin entschieden hatte: eine merkwürdige Art von Einsamkeit. Obwohl sie ständig von Menschen umgeben war, mit denen sie zu tun hatte und die auf sie reagierten, fühlte sie sich allein gelassen. Und wenn sie diese Erfahrung auf die jüngsten Geschehnisse übertrug, so waren ihre eineinhalb Tage im Memorial alles andere als ein vielversprechender Anfang ihrer klinischen Arbeitsjahre. Noch weit ausgeprägter als seinerzeit zu Beginn des Studiums stand sie unter dem Eindruck, daß sie den Versuch machte, einem rein männlichen Klub beizutreten, dessen Regeln von ihr Anpassung und Kompromisse verlangten.
Susan öffnete die Augen und sah auf ihr Notizbuch hinab, das wie ein Unfallopfer mit ausgebreiteten Armen dalag. Langsam gewann sie ihre Selbstbeherrschung zurück. Zugleich überraschte sie ihre eigene kindische Reaktion. Am Ende lagen Nelson und Harris mit ihren Analysen gar nicht so falsch. War eine Medizinstudentin in einem so frühen Stadium ihrer Ausbildung womöglich wirklich nicht die richtige Instanz für die Untersuchung und Aufklärung eines so kritischen klinischen Problems? Susan ging sogar einen Schritt weiter und fragte sich, ob ihre Emotionalität nicht vielleicht doch ein Handikap war. Hätte ein Mann sich Harris gegenüber genauso verhalten? War sie emotionaler veranlagt als ihre männlichen Konkurrenten? Susan mußte an Bellows denken und seine kühle Sachlichkeit, an die ganz und gar unpersönliche Art, wie er im Anblick
Weitere Kostenlose Bücher