Koma
Zwillingsbruder, doch sein Betätigungsfeld war die innere Medizin und deren zahlreiche Verästelungen. Außerdem war er eine der Säulen in der Hierarchie des Memorial. Auch wenn er nicht ganz so einflußreich wie Stark und auch weniger dynamisch war und als nimmermüder Subskriptionsbeschaffer dem Kollegen von der schneidenden Zunft nicht das Wasser reichen konnte, kostete es Susan doch einige Überwindung, dieser olympischen Gestalt so mir nichts, dir nichts unter die Augen zu treten. Recht zögernd schob sie die schwere Mahagonitür auf. Im Vorzimmer saß eine Sekretärin mit vertrauenerweckendem Lächeln.
»Mein Name ist Susan Wheeler. Ich hab’ eben angerufen, wegen eines Termins mit Dr. Nelson.«
»Ja, natürlich. Sie sind eine von unseren Medizinstudenten, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Susan und wußte nicht genau, was sie in diesem Zusammenhang unter dem Beiwort »unseren« zu verstehen hatte.
»Sie haben Glück, Miss Wheeler. Dr. Nelson ist gerade hier. Außerdem erinnert er sich an Sie. Aus einer Vorlesung oder so was Ähnlichem. Jedenfalls wird er Sie gleich empfangen.«
Susan bedankte sich und nahm auf einem der hochlehnigen Warteraumstühle Platz. Sie holte ihr Notizbuch hervor, um noch einmal die Aufzeichnungen durchzugehen. Doch ihre Blicke und ihre Gedanken schweiften ab. Sie betrachtete den Raum und die Sekretärin und meditierte über den beruflichen Status eines Chefarztes vom Range Dr. Nelsons. Ein solcher Posten bedeutete die Krönung jahrelanger Mühen und außerdem eine gute Portion Glück. Wenn die große Chance kam, und man konnte sie nutzen, öffneten sich die Türen wie von selbst – warum nicht eines Tages auch für sie?
Ihre Phantasien wurden jäh unterbrochen, als die Tür zum inneren Büro aufging. Zum Vorschein kamen zwei Ärzte, die ihre Unterhaltung noch im Hinausgehen fortsetzten. Susan schnappte einige Satzfetzen auf. Offenbar ging es um beträchtliche Mengen von Drogen, die im chirurgischen Umkleideraum in einem der Schränke aufgetaucht waren. Der Jüngere von beiden war sichtlich aufgeregt. Er sprach in einem seltsamen abgehackten Flüsterton. Der andere Mann hatte mit seinen sanften, wissenden Augen, dem gepflegten angegrauten Haar und dem gewinnenden Lächeln fast etwas Aristokratisches an sich. Das konnte nur Dr. Nelson sein. Er schien den jüngeren Kollegen zu trösten und verabschiedete ihn mit einem leichten Schulterklopfen. Als der andere Arzt den Raum verlassen hatte, drehte sich Dr. Nelson zu Susan um und bedeutete ihr, ihm in sein Allerheiligstes zu folgen.
Nelsons Büro war ein einziges Durcheinander von verstreuten Büchern, Zeitschriftenartikeln und Bergen von Briefen. Niemand schien sich die Mühe gemacht zu haben, auch nur eine gewisse Ordnung herzustellen. Die Einrichtung bestand aus einem großen Schreibtisch und einem alten Sessel mit aufgeplatztem Lederbezug, der knarrte, als sich Dr. Nelson darin niederließ. Auf der anderen Seite des Tisches standen zwei kleinere Lederstühle. Dr. Nelson deutete auf einen, während er sich eine Pfeife auswählte, die Tabaksdose öffnete und den Pfeifenkopf mehrmals auf die linke Handfläche schlug. Die Aschenreste wurden auf den Boden gewischt.
»Ach ja, Miss Wheeler«, sagte Dr. Nelson, nachdem er ein Notizkärtchen auf dem Tisch konsultiert hatte. »Ich erinnere mich an Sie aus der Diagnose-Übung. Sie kamen aus Wellesley, nicht wahr?«
»Radcliffe.«
»Radcliffe, selbstverständlich.« Dr. Nelson korrigierte seine Notiz entsprechend. »Was können wir für Sie tun?«
»Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll. Ich bin auf das Problem des prolongierten Koma gestoßen und habe angefangen, mich damit zu beschäftigen.«
Dr. Nelson lehnte sich zurück und legte die Fingerkuppen beider Hände aneinander.
»Das ist sehr verdienstvoll, aber Koma ist ein weites Feld. Außerdem drückt es mehr ein Symptom aus als eine Krankheit. Es kommt also auf die Ursache an. Woraus resultiert denn der Fall, mit dem Sie sich beschäftigen?«
»Das weiß ich nicht, und darum interessiert mich das Problem ja gerade so. Mit anderen Worten: die Art von Koma, die einfach auftritt und für die es keine offensichtliche Erklärung gibt.«
»Bezieht sich Ihr Interesse auf die Notambulanz oder auf stationäre Fälle?« Dr. Nelsons Stimme hatte sich leicht verändert.
»Auf stationäre Fälle.«
»Damit meinen Sie womöglich die vereinzelten Fälle, die bei Operationen aufgetreten sind?«
»Sofern Sie sieben als vereinzelt
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