Komisch - die Liebe
dreht sich zu mir um. Sie küsst mich sanft. Streichelt mir den Hals. Massiert mir quasi den Nacken. Lächelt.
»Ich gehe.«
»Wohin?«, erwidere ich schlaftrunken.
»Nach Hause. Ich muss morgen früh zur Arbeit. Es ist spät …«
Plötzlich bin ich hellwach.
»Ach …« Damit habe ich nicht gerechnet.
Ich dachte, die Verbindung sei verschweißt. Versiegelt für immer, mit einem kosmogonischen Liebessiegel, unauflösbar. Unantastbar.
Auf ewig.
»Zum Glück sind wir ja Nachbarn.« Sie küsst mein Knie.
Ich will aufstehen. »Ich bringe dich.«
»Bist du verrückt? Auf gar keinen Fall«, grinst sie.
Ich lasse mir nichts anmerken, aber ich tanze nicht gerade Samba. Ich stehe still. Eher einen Tango. Einen ganz schwermütigen.
»Wann bist du morgen fertig?«
»Morgen wird ein Höllentag. Wir kriegen einen neuen Dirigenten. Er ist Slawe und offenbar ein ziemliches Aas. Vulićević. Begnadeter
Dirigent, aber wohl komplett verrückt. Morgen fangen die Proben zu
España
von Chabrier an. Mal sehen, wie’s wird. Und du?«
»Ich arbeite. Bis sieben.«
Sie ist angezogen wie eben, bevor ich sie mit Herz und Hand auszog. Sie ist wunderschön. Ein bisschen wie Audrey Hepburn,
nur die Nase ist prominenter.
»Rufst du mich gegen neun an?«
M orgens komme ich nur langsam in die Gänge. Es sei denn, Adele ist da. Ich bewege mich langsam, ohne Hektik. Kaffee. Radio.
Fernsehnachrichten. Zigarette. Reinigung. Kaffee. Dusche. Kaffee. Rasieren. Irgendwann schalte ich mein Handy an. Aber nicht
heute Morgen. Heute schalte ich es sofort an. Setze den Kaffee auf. Eine Nachricht. Zwei Nachrichten. Drei Nachrichten.
»Deine Windschutzscheibe gefällt mir.«
»Warum riecht deine Wohnung so komisch?«
»Du gefällst mir auch. Du bist ein
Allegro con brio
. Das spiele ich gern. Schönen Tag.«
Ich antworte nicht sofort. Hebe mir diesen genussvollen Moment bis nach der Dusche auf. Ich warte auf eine zündende Idee.
Einen Geistesblitz, der sie darin bestätigt, dass ich ihr gefalle. Aus dem Radio ertönt
Is It Any Wonder?
von Keane. Genau.
Mal sehen …
»Ich liebe Musik, wenn du sie spielst.«
»Mir gefällt, wie du spielst.«
»Wollen wir zusammen spielen?«
Ich wähle Option Nummer eins: »Ich liebe Musik, wenn du sie spielst.«
Mein Motorino ist mein bester Freund. Ihm gebührt ein Mantra. Die Windschutzscheibe ist mein treuer Diener. Ich fahre an ihrem
Haus vorbei, wo die Umzugspacker waren. Ich sehe es jetzt mit ganz anderen Augen.
Selbst meine Buchhandlung ist auf einmal irgendwie schöner. Gemütlicher. Sie stinkt zwar ein bisschen, aber wen kümmert das
schon. Ich weiß nicht, wie ich hergekommenbin, mit dieser Doppelaxt, die aus meiner Brust ragt und ständig gegen meine heilige Windschutzscheibe wummert. Ist das schön.
Ich bin total überdreht, aber glücklich. Etwas wirklich Unerwartetes ist passiert.
Ich will zu jemandem gehören. Zum ersten Mal in meinem Leben will ausgerechnet ich zu jemandem gehören.
Die ganze Welt möchte ich ihr schenken, aber vielleicht gehört sie ihr schon.
Ich arbeite. Ich esse bei Gianni zu Mittag. Allein. Ich esse nicht viel. Mein Handy klingelt. Ich zucke freudig zusammen …
aber es ist Adele.
»Warum rufst du nie zurück?«
»Ich hatte viel um die Ohren.«
»Bist du heute Abend zu Hause?«
»Nein, Adele. Heute Abend geht es nicht.«
»Hmmm … Morgen?«
»Weiß noch nicht.«
»Nino, du kannst mich mal!«
Sie legt auf. Ich zahle und gehe.
Ich schließe mich im Laden ein und versuche, ein wenig zu schlafen. Ich döse vor mich hin, als es klopft. Maya? Schon wieder?
Normalerweise sind ihre Besuche eher sporadischer Natur. Ich luge hinaus. Es ist nicht Maya. Es ist Adele. Sie hämmert wild
an die Tür und tritt nun sogar dagegen. Ich verstecke mich im Wohnbüro. Ist die denn total ausgetickt? Ich höre sie meinen
Namen rufen. Sie klopft immer weiter. Nicht, dass sie noch die Tür einschlägt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Am liebsten
wäre ich ganz weit weg.
Kurz darauf ist alles still. Ich lausche vorsichtig.
Stille.
Wie das siebte Geißlein aus seinem Uhrenkasten luge ich ganz vorsichtig hervor und sehe, wie Adeles Wagenwegfährt. Auf der Türscheibe steht etwas geschrieben:
Mistkerl!
Mit Lippenstift.
Ich nehme den Glasreiniger und beginne, dieses Urteil, das eher nach einem Bannspruch klingt, wegzuwischen. Auf dem Boden
sehe ich Adeles Lippenstift, zerbrochen. Vielleicht sollte ich sie wirklich nicht mehr treffen. Ich säubere
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