Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
Vom Netzwerk:
Das Wiegen hörte nicht auf und das Wasser war weg, meine Mutter wiegte mich – aber, nein –, das war nicht meine Mutter, sondern eine Frau mit langem dunklem Haar, das offen über ihre Schultern fiel. Eine Frau mit tief liegenden besorgten Augen.
    Â»Kannst du mich sehen?« Ich hörte die Stimme neben meinem Bett.
    Ich schlug die Augen auf. Der Mond stand nun über meinem Fenster, es war sehr dunkel im Zimmer.
    Â»Du hörst mich doch, oder?« Ich hatte die Stimme noch nie gehört, das wusste ich, trotzdem war sie mir so vertraut wie meine eigene.
    Â»Bist du die mit meinem Gesicht?«, flüsterte ich.
    Â»Ich war zuerst da«, antwortete sie mit einem kleinen Lachen. »Du bist es, die mein Gesicht hat.«
    Â»Wer bist du?«
    Â»Das musst du doch wissen. Wir sind zwei Seiten einer Münze. Vor der Geburt schwammen wir miteinander im selben Ozean. Hast du denn nicht gewusst, dass ich dich eines Tages holen komme?« Neben meinem Kissen bewegte sich etwas. Ich spürte einen Luftzug an meinem Gesicht und etwas so Leichtes und Weiches wie die Brustfeder einer Möwe streifte meine Stirn.
    Das Nächste, was ich noch weiß, war, dass ich blinzelnd zur Decke schaute. Die Sonne schien hell ins Zimmer.
    Die Stimme in meinen Ohren war die von Neal.
    Â»Mom sagt, du musst jetzt mal Gas geben, Laurie«, sagte er von der Tür her. »Wenn du dich nicht beeilst, verpasst du das Frühstück.«
    Dieser Tag war genauso sonnig wie der davor. Ich zog mich an und aß etwas, dann ging ich mit den Kleinen zur Fähre. Die Brise, die mir ins Gesicht schlug, als wir den Schutz der Dünen verließen, war frisch genug, um sämtliche trüben Gedanken zu vertreiben. Aber die Träume hatten mich noch immer fest im Griff. Sie hatten sich wie eine schwere Decke auf mich gelegt, ich konnte sie nicht wegstoßen oder mich darunter herauswinden. Als ich Gordon am Anleger auf mich warten sah, blitzte nicht etwa die Erinnerung an sein Gesicht auf und daran, wie er sich im Mondschein über mich gebeugt und geküsst hatte, sondern ich sah ihn so wie im Traum, als ich mich an ihm festhalten wollte und er vor mir zurückgezuckt war. Und während wir am Bug an der Reling standen und er mir den Arm um die Schultern gelegt hatte, sah ich auch nicht das blaue Meer, das sich bis zum Festland vor uns erstreckte, sondern das ölige, dunkle Wasser, das mich getragen und gewiegt hatte.
    Â»Du bist schrecklich still«, sagte Gordon. »Du bist doch nicht immer noch sauer, oder? Ich dachte, wir hätten alles geklärt.«
    Â»Das ist es nicht«, sagte ich. »Ich hab letzte Nacht nur nicht besonders gut geschlafen, weiter nichts. Bei uns sind Sachen vorgefallen, die mir irgendwie Angst gemacht haben.«
    Â»Redest du von Herumtreibern? Wär wohl besser, wenn deine Eltern tagsüber abschließen würden. So wie die in das Zeug vertieft sind, das sie machen, könnte jeder da reingehen und was klauen, ohne dass sie es mitkriegen würden.«
    Er wiederholte, was er im Dorf gehört hatte, da war ich mir sicher. Es gab jede Menge Leute, die die Familie Stratton für reichlich seltsam hielten. Wie konnten zwei Menschen nur so leben wie meine Eltern? Wie Einsiedler, die sich in diesem extravaganten Haus an der Nordspitze der Insel für nichts als sich selbst, ihre Kinder und ihre Arbeit zu interessieren schienen! Dad und Mom waren nie in den Jachtklub eingetreten, in den die meisten Leute zum geselligen Beisammensein gingen. Sie hatten sich nie ein Boot gekauft, obwohl sie sich leicht eines hätten leisten können – nicht mal ein kleines mit Außenbordmotor. Mir hatten sie erlaubt, Mitglied im Tennisklub zu werden, weil alle meine Freunde dort spielten, aber sie tauchten nie dort auf und schauten bei einem Match zu. Sie waren auch nie zum Essen im Brighton Inn, und ob sie überhaupt an den Strand gingen, wusste kein Mensch.
    Â»Meine Familie ist ja nicht total bescheuert«, sagte ich und versuchte das Thema nicht so ernst zu nehmen. »Sie würden es schon merken, wenn Leute durchs Haus trampelten und die Möbel wegschleppten.«
    Â»Mach keine Witze, Laurie«, sagte Gordon. »Ich mein das ganz ernst. Deine Mom sitzt oben in ihrem Atelier, dein Vater hängt den ganzen Tag vor dem Computer, und sie kriegen beide nichts mit. Wahrscheinlich könnte man eure Möbel tatsächlich wegschleppen, ohne dass sie es merken würden. Und

Weitere Kostenlose Bücher