Komm zu mir, Schwester!
auch nicht viel vor.«
»Dann lassen wir das erst mal offen«, sagte ich. »Und ich sag dir Bescheid.«
Doch schon bei diesen Worten wusste ich, dass ich mich nicht mehr rausreden konnte. Helen würde mich zu Hause besuchen. Und so nett und freundlich sie auch sein mochte, ich wollte nicht, dass sie kam. Zu den Inselleuten passte sie im Leben nicht, und ich hatte ernste Zweifel, dass meine Eltern von ihr begeistert wären. Sie verteidigten ihr Privatleben und ihre Arbeitszeiten immer mit Zähnen und Klauen, sich um einen Gast zu kümmern entsprach ganz bestimmt nicht ihren Vorstellungen von Vergnügen.
Der Tag zog sich also hin, eine blöde Irritation nach der anderen. Keine groÃen Sachen, aber nervig. Die Sohle von meinem Schuh löste sich ab, ein BH -Träger riss. Ein Filzstift verlor die Kappe und blutete in meiner Federtasche aus, wo er alles vollschmierte. Auf der Fähre zurück zur Insel lieà Natalie sich auf den Platz an Gordons anderer Seite fallen, weil sie ein »interessantes Gespräch« beenden wollte, das sie beim Mittagessen begonnen hatten. Plötzlich wurde mir klar, dass sie zur selben Zeit Mittagspause hatten und nun wahrscheinlich jeden Tag zusammen essen würden. So richtig eifersüchtig machte mich das nicht. Immerhin waren sie Freunde, oder? Warum sollten sie da nicht zusammen essen? Egal, mir war nicht wohl bei dem Gedanken, besonders wenn ich an ihre »paar Küsse« am Abend von Nats Party dachte â und daran, dass Gordon deswegen anscheinend keine groÃen Schuldgefühle gehabt hatte.
Wir trennten uns am Anleger. Gordon, Nate und die anderen gingen ins Dorf, während Meg, Neal und ich uns zum Cliff House aufmachten. Neal rannte sofort davon â auf seinen beflügelten FüÃen â, und ich hatte Meg ganz für mich.
»Ich wollte dich was fragen«, sagte ich. »Gestern Nacht, als ich dich zugedeckt habe, hast du gesagt, ich sei âºso hoch obenâ¹ gewesen. Was hast du damit gemeint?«
»Ich weià gar nicht mehr, dass du mich zugedeckt hast«, sagte Meg.
»Ist auch nicht so wichtig«, sagte ich. »Du warst ja nicht richtig wach. Aber ich bin in dein Zimmer gekommen und du hast von mir da âºhoch obenâ¹ geredet. Damit musst du doch was gemeint haben.« Ich machte eine Pause, dann bohrte ich sanft nach. »Du hast gesagt, du hättest aus dem Fenster geguckt. Du hast Gordon und mich beobachtet, oder?«
»Gar nicht!«, rief Meg sauer. »Ich wusste nicht mal, dass Gordon da war. Er ist ja nicht reingekommen.« Sie war so entrüstet über meinen Vorwurf, dass ich ihr beinahe glaubte.
»Er war aber da«, sagte ich, so beiläufig wie möglich. »Wenn du also aus dem Fenster geguckt hast, musst du uns zusammen gesehen haben.«
»Ich hab nicht aus dem Fenster geguckt«, sagte Meg. »Du hast reingeguckt.«
»In dein Fenster? Das ist nicht möglich. Da hätte ich doch auf einer Leiter stehen müssen.«
»Deshalb hab ich das ja auch nicht verstanden«, sagte Meg. »Du warst so hoch oben. Wie bist du da hingekommen?«
Das Seltsame war, ihre Antwort überraschte mich nicht. Eigentlich hatte ich so etwas erwartet. Ãberraschungen lieÃen mich mittlerweile kalt. Ich fühlte mich wie in einem Traum, wo die unmöglichsten Dinge passieren konnten, die man einfach akzeptierte, so als wäre alles ganz normal. Vielleicht träumte ich ja. Wenn ich jetzt lange genug hier blieb, Ruhe bewahrte und versuchte, nicht zu viel Angst zu haben, würden meine Augen vielleicht plötzlich aufklappen und ich wäre plötzlich wieder da, wo ich mich gestern Morgen befunden hatte, nach der Magen-Darm-Grippe, dann würde die Schule wieder anfangen und alles in meinem Leben wäre wieder im Lot.
Aber das passierte natürlich nicht.
Als ich an diesem Abend einschlief, wurde mir die Gegenwart des anderen Mädchens an meinem Bett bewusst. In der Dunkelheit konnte ich sie zwar nicht sehen, doch ich wusste, dass sie da war.
»Wer bist du?«, fragte ich. »Wie heiÃt du? Wie soll ich dich nennen?«
Ich spürte, wie sie sich über mich beugte, ihr Atem war ein Hauch auf meiner Wange.
»Ich bin Lia«, flüsterte sie. »Ich bin deine Schwester.«
FüNF
Und dann kam sie viele Nächte lang nicht wieder ⦠meine Schwester Lia.
Meine Schwester Lia?
Ich hatte eine kleine, pummelige Schwester und die hieÃ
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