Komm
Männer trommelten auf Kotflügel und Fenster.
Sie habe sie nicht gekannt, sagte sie.
Als ob es nie passiert wäre, erzählte sie.
Dreiundzwanzig?
Im Buch entkommt sie nicht. Im Buch vergewaltigen sie sie der Reihe nach, auf dem Wohnzimmerboden. Jetzt hat er es gefunden. Nach drei Vierteln des Buches, Kapitel fünfzehn. Jubelnde Zurufe und Kronleuchter an der Decke. Aber so steht es nicht da. Er weiß nicht, warum, aber er glaubt, so würde sie es erzählen. Im Buch sind ihre fehlenden Worte ergänzt.
Wer hat das Recht, eine Geschichte zu schreiben?
Petra Vinters Geschichte?
XVII
S ie hat sie auch aufgeschrieben. Hat ihr Lektor erzählt. Ganz bestimmt in seinem Büro. Vor ein paar Monaten. Der Lektor stand vor ihm und sagte, Petra Vinter habe ein Manuskript abgeliefert, in dem sie etwas schilderte, was sie selbst erlebt hatte. In Morenzao.
Einen Überfall?
»Ganz anders als ihre normalen, nicht zu entschlüsselnden Gedichtbände.«
Petra Vinter ist Frau wie eine Frau.
Das hat der Lektor nicht gesagt.
Er schaut auf den Bildschirm.
Trotzdem macht Kunst die Welt, ich möchte nicht sagen besser, aber lebenswerter , lautet der letzte Satz.
Er hat Lust, den Rechner auszumachen und nach Hause zu fahren. Nach Hause und bei Petra Vinter zu schlafen. Lula. Was geht eigentlich in seinem Hirn vor, verdammt noch mal? Lula ist vergessen. Und er will nicht nach Hause zu Petra Vinter, er will Petra Vinter gar nicht sehen, weder bei ihr zu Hause noch hier im Büro noch sonstwo. Er will mit Petra Vinter nichts zu tun haben, und sobald er mit dieser verfluchten Rede fertig ist, wird er auch mit ihr fertig sein. Wird ihr keinen Gedanken mehr widmen.
Er steht auf und geht zum Fenster. Zieht die Gardine zur Seite.
In dem Ordner mit den beiden Fotos und der Zeugenerklärung hatten auch einige zusammengeheftete Notizen, ein fettiger, maschinengeschriebener Polizeibericht auf Portugiesisch und die handgeschriebene Rechnung eines Krankenhauses in Johannesburg gelegen.
Sie sieht ihn ausdruckslos an. Unterhalb des Verbands ist das eine Ohr geschwollen und blau und mit einigen Stichen genäht, wo das Ohrläppchen sein müsste. Auf dem Foto im Krankenhausbett. Auf dem anderen ist ihr Ohr heil. Das fällt ihm plötzlich ein.
Ein feuchter, stürmischer Abend. Kein Regen. Nur der wütende Wind in den Fensterfugen. Und ein Stimmengewirr aus Petra Vinters Wohnzimmer.
Er hatte die Bilder in den Plastikordner zurückgelegt und war wieder zu den anderen gegangen.
Wie kann Kunst die Welt lebenswerter machen, wenn sie nicht das Ziel haben darf, die Welt lebenswerter zu machen?
XVIII
W as ist mit politischer Kunst? Hat sie kein Ziel?
Protestsongs? Bob Dylan? Leonard Cohen?
Oder verhält es sich mit der Literatur anders?
Er wählt Veras Nummer noch einmal. Wieder nur der Anrufbeantworter. Er hört der automatischen Ansage nur halb zu und legt auf.
Auch Dante war politisch. Dickens, Woolf. Aber in erster Linie waren sie etwas anderes. Ist das der Unterschied? Das Ausleuchten des Menschen und des Daseins unter bestimmten Bedingungen, das eigentliche Ausleuchten. Hinter der Vorstellung?
Das Wahre, würde Lula sagen.
Petra Vinter?
Das ist ein Nebengleis.
Als er seine Frau kennenlernte, hatte er eben als Lektor angefangen. In einem anderen Verlag. Sie waren beide fünfundzwanzig. Sie war schön, aber das war nicht der Grund, warum er sie reizvoll fand. Schon damals mischte sie in der Politik mit. Obwohl ihr Vater den Loke-Konzern besaß, hatte sie für ihr Buch Visionen für das Land den kleinen unabhängigen Verlag gewählt, in dem er damals angestellt war.
Es war keine Kunst und gab sich auch nicht als solche aus. Es war ein gutes Buch!
Es ist sechsundzwanzig Jahre her.
Damals hätte sie gesagt, er solle das Manuskript des Autors nicht veröffentlichen. Heute würde sie sagen, er sei ein Trottel, wenn er auch nur zweimal darüber nachdenken würde. Ist sie ein anderer Mensch geworden? Oder sie alle beide?
Auch er hätte es damals abgelehnt, ein Manuskript zu veröffentlichen, dessen Geschichte von einem anderen gestohlen war.
Und heute?
Ist es nur, weil er mehr weiß, weniger naiv ist? Klüger? Weil er heute weiß, dass die Welt so ist, dass die Kunst so ist?
Künstler stehlen von ihrer Umwelt und voneinander.
Auch Schriftsteller.
So wie der Mensch nicht entweder gut oder böse ist, sondern beides, muss die Kunst sowohl gut als auch böse sein, gerade weil
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