Komm
Telefonnummer, aber wieder meldet sich nur der Anrufbeantworter.
Er hat den Faden verloren. Geht zu einem früheren Absatz zurück.
Kunst entsteht in dem Abgrund zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir gern sein wollen.
Ist deshalb die Kunst, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt, gar keine Kunst? Einerlei, ob Fotografie, Malerei oder Literatur. Wenn sie nichts anderes tut, als die Oberfläche zu sehen, verbleibt sie dann auf unserer äußeren Seite? Hilft sie uns dann nicht, die gähnende Leere zwischen unserm Inneren und unserm Äußeren zu füllen?
Was kümmert es ihn, was Kunst ist und was nicht?
Er hat einen Verlag zu führen.
Was an sich schon eine Kunst ist!
Man kann es tun oder lassen: untreu zu sein.
Welchen Unterschied macht das? Alle denken daran. Träumen davon. Zuweilen, regelmäßig, oft. Ständig. Es zu tun, darin steckt mehr Mut, als es zu lassen.
Denken und Handeln ist nicht das Gleiche. Sagt Petra Vinter.
Aber welchen Unterschied macht es?
In manchen Situationen den ganzen. In anderen keinen. In dieser hier kommt es auf den Pakt an.
Warum einer Sache treu sein, die es nicht gibt?
Warum an etwas teilnehmen, das es nicht gibt?
Ja, was dann? Er ist hier und da und überall fremdgegangen, das tun alle. So ist das Leben.
So ist dein Leben!
Frode Jørgensen war depressiv, und depressive Menschen machen solche Sachen.
Er vergaß Vera.
Ja, da siehst du mal.
Idiot! Er hämmert auf den Tisch.
Er kann noch ihre Stimme hören: Wir entscheiden selbst, wer wir sind.
Ohne Verachtung.
Das lässt ihn außer sich geraten vor Wut.
Es ist einfach, besser zu sein, wenn man an keinen anderen als sich selbst zu denken hat! Er leitet einen Betrieb mit achtundneunzig Angestellten. Hat eine Familie. Eine Verwaltung und Aktionäre, an die er denken muss. Wieder schaut er auf die Uhr. Einundzwanzig sechzehn. Er ruft nicht an. Welchen Entschluss würde er fassen, wenn es nicht …?
Und was ist mit seiner Frau?
Er weiß es doch, nicht wahr?
Das denkt er, ohne es zu Ende zu denken, als er aufsteht und zum Fenster geht und auf den Schnee schaut, der Petra Vinters Fußspuren langsam füllt.
XVI
D er Künstler hat in erster Linie eine Verantwortung seiner eigenen Kunst gegenüber. Ihr unter ihren eigenen Prämissen gerecht zu werden. Das Bestmögliche zu tun. Gute Kunst darf keine Rücksicht nehmen, und deshalb darf die Kunst auch nicht ethisch sein. Sie kann die Welt nicht besser machen wollen, denn allein die Tatsache, ein solches Ziel zu haben, entzieht ihr die Möglichkeit, Kunst zu sein.
Es stimmt nicht, dass man Petra Vinter nicht nahekommen kann. Man kann Petra Vinter ebenso nahekommen wie sich selbst.
Wo, verdammt, kommt das nun wieder her?
Trotzdem macht Kunst die Welt …
Übrigens will er Petra Vinter nicht näherkommen. So ein Unsinn.
Er muss diese Sache mit dem Abgrund noch einmal aufnehmen. Oder dem Spiegel. Brauchen wir einen Zerrspiegel, um uns daran zu erinnern, wer wir sind? Einen Spiegel, der uns mehr zeigt als nur die Wirklichkeit, da die Wirklichkeit in Wirklichkeit nicht wir sind.
Ist es so?
Es war nicht im Büro des Lektors, sondern in Helsingør. Feuer im Kamin, schwarze Ledersofas und ein niedriger Glastisch. Es war Abend, und der Regen schlug an die Scheiben. Eine Hotelbar.
Gar nicht wert, dran zu denken.
»Das eine Leid rechtfertigt nicht das andere.«
Ein skandinavisches Literaturseminar.
Das hat sie gesagt. Aber erst zum Schluss. Oder? Nach der Erzählung. Nach dem Mord an dem Wahlbeobachter. Der Entlassung, die sie nicht akzeptieren wollte. Dem Überfall. Der Erzählung von dem Überfall.
Aber sie war entkommen. So hat er es in Erinnerung.
Sie standen auf.
Nein, er stand auf, die anderen blieben sitzen. Dann setzte er sich auch.
»Sie haben meinen Wächter totgetreten. Die Straße war schmal und der Abend finster. Es war direkt vor meinem Haus. Ich rief um Hilfe, als sie mich umringten, aber keiner kam.«
Natürlich.
So ist die Welt.
Denk daran, Petra Vinter: Es gibt Situationen, in die man sich nicht selber bringen sollte.
Sie war entkommen, so hat er es in Erinnerung. Irgendwie waren die Männer betrunken, und deshalb gelang es ihr, sie zu verwirren, als sie sie ins Haus zurückdrängen wollten. Sie wurde geschlagen, aber irgendwann gelang es ihr, ins Auto zu kommen, auf der Beifahrerseite. Viele Schläge. Versperrte die Tür, rutschte auf den Fahrersitz und fuhr blutüberströmt los; die Fäuste der
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