Komm
sie alles Menschliche spiegeln soll. Sie soll uns zeigen, wie wir sind, nicht, wie wir sein sollten.
Die Töne eines Saxophons und eine Frauenstimme erklingen immer lauter. Er kann sich nicht erinnern, was das für ein Lied ist. Er hat es oft gehört. Es ist eines von denen, die er nicht mehr hören kann. Er weiß nicht, warum. Es gefällt ihm. Es kommt aus dem Gebäude gegenüber. Jemand hat das Fenster aufgemacht, und die Gardinen flattern heftig im Wind.
Er öffnet sein eigenes Fenster, lehnt sich hinaus. Ignoriert die Flocken, die ihm entgegenwirbeln. Jetzt hört er deutlich die Worte. Er wünscht, es würde ewig dauern, aber der Schnee weht drüben durchs offene Fenster, und er weiß, es wird nicht lange offen bleiben.
Ohne einen Laut hervorzubringen, formt er die Worte Lisa Ekdahls mit den Lippen:
»Ich sah einen Mann ins Wasser waten
Und ich fragte, wohin er denn will.
Er sagte: Wohin mich meine Beine tragen
So schwer wird’s schon nicht sein.
Er sprach vom Himmel, er sprach vom Meer
Er wählte die abgedroschensten Worte
Doch auf seinen Lippen wurden die Wörter lebendig.
Ja, plötzlich, so schien mir, verstand ich:
Viele sind wir, die vom Meere sprechen
doch wenige haben das Meer im Blick.
Ich traf einst einen Mann mit solchen Augen,
doch niemand, den ich fragte, weiß, wohin er ging.
Und viele sind wir, die …«
Wenn sie hier wäre, würde er sie umarmen, ihr das Knabenhafte austreiben, ihr Kleid aufknöpfen und sie behutsam ausziehen.
Idiot?
XIX
E r zittert vor Kälte. Die Töne sind weg, das Fenster gegenüber wurde längst geschlossen, und seine Hemdärmel sind vom Schnee durchweicht. Er wirft das Fenster zu. Schüttelt die losen Flocken von den Ärmeln und geht ins Bad, um sich Gesicht und Hände abzutrocknen. Setzt sich wieder.
Rechts von seinem Arm und dem grünen Ledereinsatz ist der Lack auf dem Schreibtisch matt und abgenutzt. Das ist ihm noch nie aufgefallen. Er fährt mit der Hand über die Kirschholzkante. Der glatte Widerstand ist wie eine Haut, und er entdeckt, dass sich die Härchen auf seinem Arm aufstellen. Wie sich Petra Vinter wohl anfü…?
Wie kommt er denn auf so was?
Petra Vinter ist ihm total egal!
Er muss müde sein. Vera hat er übrigens schon lange nicht mehr gesehen.
Er schaut auf die Rede, hält wieder bei dem Satz inne:
Trotzdem macht Kunst die Welt, ich möchte nicht sagen besser, aber lebenswerter.
Wieso eigentlich?
Reicht die Natur nicht, die technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften des Menschen? Oder brauchen wir die Kunst, gerade weil wir die Natur hinter uns gelassen haben?
Wir brauchen die Kunst, um Menschen sein zu können , schreibt er zögernd.
Aber wieso eigentlich? Wieso brauchen Katzen, Affen, Elefanten die Kunst nicht? Ist dieser Abgrund entstanden, damals, als unser Gehirn so viele Windungen bekam, dass wir lernten, aus uns selbst herauszutreten, damals, als wir von dem Apfel aßen und aus dem Paradies vertrieben wurden? Der Abgrund zwischen dem, der wir sind, und dem, der wir zu sein uns vorstellen. Ist es, weil wir in einer Vorstellungswelt leben, dass wir die Kunst brauchen, um uns durch eine weitere Vorstellung aus unserer Vorstellung von uns selbst herauszutricksen und dadurch ein Gefühl unseres eigentlichen Selbst zu bekommen?
Ist das Paradies der tierische Zustand, sich des eigenen Seins nicht bewusst zu sein?
Was ist das Besondere am Menschsein, das die Kunst notwendig macht?
Was heißt es überhaupt, ein Mensch zu sein?
Er nimmt die Brille ab und reibt sich den Nasenrücken. Hat die Augen geschlossen und das Gesicht in die Hände gestützt und versucht, klar zu denken.
Die Frage ist zu groß.
Natürlich ist sie zu groß. Aber warum taucht sie auf, wenn er hier über ganz andere Sachen schreibt? Über Ethik und Kunst? Taucht sie auf, weil alles, was er dazu zu sagen hat, auf Annahmen über Ethik und Kunst beruht, die wiederum auf Annahmen darüber beruhen, was der Mensch ist, denn ohne Mensch keine Kunst, keine Ethik, und bevor er weiß, was diese Annahmen sind, bevor er weiß, ob er mit ihnen einverstanden ist, wird alles, was er über Kunst und Ethik schreibt, nichts anderes sein, als Kartenhäuser auf anderen Kartenhäusern zu bauen, von denen er nicht weiß, ob sie halten. Er öffnet die Augen.
Was würde Lula dazu sagen?
Du kannst schmecken, was wahr ist.
Und Petra Vinter?
Du weißt es genau.
Was würde seine Frau sagen?
Sieh zu, dass du deine Rede fertig
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