Komm
Licht fällt merkwürdig schonungslos auf das alte freigelegte Mauerwerk, und die trockenen Schatten der Rillen und Vertiefungen scheinen nur darauf warten zu wollen, wieder mit Mörtel bedeckt und gestrichen zu werden. Er wählt die Treppe und lauscht seinen eigenen Schritten in der wunderlich bevölkerten Stille. Wo der Stahl des modernen Treppengeländers eingelassen ist, geben die alten breiten Eichenbohlen ein trockenes Knarren von sich. Seine Schritte hallen von der Eiche auf Stahl wider, und der leise hohle Ton der alten Bohlen wird zu einem dünnen metallenen Echo.
Dritter Stock, hier sitzt er. Petra Vinters Lektor.
Es ist dunkel in dem Raum, und alles ist still. Das Fenster zeigt auf den Hof, und einen Moment lang schaut er auf den herabsegelnden Schnee, der sich hier in Formen seltsam modellierwachsartiger Fahrräder, Transporter, Blumenkästen und Mülleimer verwandelt. Dann schaltet er das Licht ein und sieht nur sein Spiegelbild. Auch er ist modellierwachsartig, mindestens dreißig Kilo zu viel, denkt er noch, bevor er sich abwendet.
Eine Sammlung von Bruchstücken, hatte der Lektor gesagt. Eine seltsam zusammenhängende Sammlung von Bruchstücken.
Überall liegen Berge von Manuskripten. In drei Reihen auf dem Schreibtisch, aufgeschichtet auf den Regalbrettern dahinter, die Hälfte des Konferenztisches ist davon bedeckt, und auf dem Boden liegen weitere Stapel.
Geschrieben unter Pseudonym.
Er grübelt nach, aber da ist nichts zu machen: Er kommt nicht mehr auf den Titel.
Er lässt den Blick über die Papierstapel schweifen. Hebt einige der obersten Bündel an. Das einzige, was das eine mit Gummiband gehaltene Bündel vom nächsten unterscheidet, sind Titel und Verfassername. Und der Umfang.
Sein eigenes Büro hatte auch einmal so ausgesehen. Wie hat er damals den Überblick behalten? Ach, ja, er legte sie nach Datum ab. So ungefähr. Er wusste, wo was lag. Heute sind es die Sekretärinnen, die seine Stapel von Briefen und Tagungsberichten im Griff haben. Keine Manuskripte. Alf ist ein Ordnungsmensch. Es muss ein System geben. Er blättert ein paar Stapel durch, kein Zweifel, die Manuskripte sind nach Alphabet geordnet. Nach den Verfassernamen. Aber das hilft ihm auch nicht, wenn Petra Vinter nicht als Petra Vinter schreibt. Er geht die drei Reihen auf dem Schreibtisch durch. Er glaubt, ihren Stil erkennen zu können, auch wenn sie zum ersten Mal Prosa schreibt. Er hat so ein merkwürdiges Gefühl, irgendetwas werde ihm verraten, dass dieses Manuskript von Petra Vinter stammt, dieses und kein anderes.
Eine seltsam zusammenhängende Sammlung von Bruchstücken.
Geschrieben rund um ein und dieselbe Tat.
Eine Tat, die nie beschrieben wird.
Ein Überfall? Eine Vergewaltigung? Dreiundzwanzig?
Er sieht alle drei Reihen durch, ohne etwas zu finden, das von Petra Vinter stammen könnte. Er geht wieder zum Fenster und schaut hinaus, obwohl es vor allem den Raum hinter ihm und die vielen Manuskriptstapel reflektiert.
Er versucht sich an etwas zu erinnern, aber er kann sich nicht einmal daran erinnern, woran er sich erinnern will.
Zu Hause bei Petra Vinter sind die Wände weiß gestrichen und die Decken vergilbt von altem Zigarettenrauch. Über Petra Vinters Schreibtisch hängt eine Pinnwand mit einer Menge Notizzettel und Fotos von Kindern, die er nicht kennt. Er kann den Lärm und die Stimmen aus dem Wohnzimmer hören. Sie übertönen Lisa Ekdahl. Es sind immer die sonderbarsten Dinge, an die man sich nicht erinnert.
Es stürmt, und es ist die Grimmigkeit des Windes, an die er sich erinnert.
Ihr Schlafzimmer liegt neben dem Bad, und die Tür war offen, und an diesem Ende des Flurs ist sonst niemand. Er zieht die oberste Schublade auf. Sie ist bis zum Rand mit beschriebenen Papieren gefüllt. Er durchwühlt sie nicht, er liest bloß die oftmals durchgestrichenen und berichtigten Namen auf dem obersten Blatt:
Andreas Witt
Otto Knees
Theodor T.
T. Theodor
Teodor Th.
Bernhard Theodor
Bernhard Theodor Mont
Bernhard Mont
Bernhard L. Mont
»Komm«, sagt eine Stimme.
Petra Vinter streckt ihm die Hand entgegen, kommentiert die offenstehende Schublade nicht, die er vor ihren Augen nicht über sich bringt zu schließen, dann tut er es doch.
Idiot.
XXVI
L ula hat braune Haare und braune Haut und braune Augen.
Petra Vinter hat schwarze Haare, weiße Haut und graue Augen.
»Wer den Preis für seine Taten nicht kennt, wird nicht klüger.«
Was ist mit Thomas Mann, hat
Weitere Kostenlose Bücher