Komm
tragen.
Wohin?
Als er mit einem Kaffee zurückkommt, geht es ihm besser.
Obwohl es draußen noch stockdunkel ist, zieht er die Gardinen auf. Der Anblick des Schnees, der die Straße in einem zarten Meeresblau leuchten lässt, gibt ihm ein morgendliches Gefühl.
Er weiß, er müsste die Rede binnen einer Stunde geschrieben haben. Natürlich geht er nirgendwohin. Der Schnee hat nachgelassen, bald müssen die ersten Züge fahren. Dann kann er gerade noch kurz nach Hause und unter die Dusche, bevor er wieder weg muss.
Er hat schon eine Menge Reden geschrieben, er kann das, er ist schnell. Er kann sich nicht entsinnen, warum ihn diese hier so viel Zeit gekostet hat.
Er ist vollkommen zufrieden mit seinem Leben.
Von hier sind Petra Vinters Spuren kaum sichtbar.
XXX
W as würde der Künstler leisten, wenn er seine Umgebung nicht für seine Kunst bezahlen ließe? Würde es die Kunst besser machen oder nicht?
Was für ein Humbug, wie ist er denn darauf gekommen?
Na ja, nicht schlecht, man muss das nur ein bisschen drehen, dann passt es.
Was wäre, wenn er nach Hause ginge und ihr sagte, was Sache ist: dass er ihre Freunde und Beziehungen nicht ausstehen kann, dass ihm ihre Erbstücke und Möbel und die ihrer Familie zum Hals raushängen, dass er keine Kraft mehr hat, ununterbrochen zu lügen und zu tun als ob, dass er massenhaft Frauen gehabt hat und sehr gut weiß, dass sie es weiß, und dass er ihre stillschweigende Verabredung satt hat, nämlich sein schlechtes Gewissen kontinuierlich dadurch freizukaufen, dass er ihre Reden schreibt, ihre Strategien entwirft und sie zu ihren politischen Mahlzeiten begleitet. Und ihre lang andauernde Affäre mit dem Vorsitzenden ihrer Partei akzeptiert.
Denn so ist es doch, nicht wahr?
Sagen, dass er die Vorstellung satt hat.
Die Verstellung.
Ihr.
Dass sie, wenn sie aufhörten, so zu tun als ob, vielleicht, vielleicht zwei Menschen finden würden. Zwei. Die sich nie gekannt haben. Nein, das stimmt nicht. Zwei, die sich einst gekannt haben. Zwei.
Menschen wie Petra Vinter, wollte er eben hinzufügen, verkneift es sich aber.
Idiot.
Die Frage ist, ob der Preis, den die Kunst bezahlen würde, höher wäre, wenn der Künstler nicht seine Umwelt für seine Kunst bezahlen ließe?
Die Frage ist, ob es nicht die Kunst reduzieren und uns damit alle ärmer machen würde?
Ja, so ist’s gut!
Der Parteivorsitzende!
Wieso hat er nie Einwände erhoben?
Es ist ihm so was von egal!
Nein.
Etwas zu erschaffen, das den Rahmen des Bekannten sprengt, wird stets seinen Preis fordern , fährt er fort. Grenzen zu überschreiten, wenn auch bloß die des Künstlers selbst, fordert stets seinen Preis. Nach Vollkommenheit im Ausdruck zu suchen muss notwendigerweise anderswo Kosten verursachen. Das können Vergehen sein, Ausschließungen und zuweilen aktive Übertretungen. Sogar das Zufügen von Leid.
Was hat Petra Vinter so Besonderes, dass man sein will wie sie?
Zwei Menschen wie was? Wie sie einmal waren. Nein, wie sie hätten sein sollen. Ja, so stimmt’s, wenn sie aufhörten, so zu tun als ob, würden sie vielleicht die beiden Menschen finden, die sie hätten sein sollen. Idiot! Hätte er nur ein Fitzelchen verstanden, hätte er gewusst, dass sie niemals irgendwie hätten sein sollen.
So etwas kann man nicht sagen.
Verschwendete vierundzwanzig Jahre.
Es muss mit dem Zeitpunkt zusammenhängen.
Drei Uhr achtundfünfzig.
Menschen schlafen um diese Uhrzeit.
Wer ist er, dass er seiner Frau etwas vorzuhalten hätte?
Das Quadrat von zwei ist vier, ist ein Viertel.
Machte die Hälfte, für die keiner die Verantwortung übernahm, das Ganze zu nichts? Oder verhält es sich so mit Ehen?
Hätte es nie sein sollen?
Oder hätten sie sich vor fünfzehn Jahren trennen sollen? Auf sieben fette Jahre folgen sieben magere.
Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig …
Werden es nicht irgendwann zu viele?
Schweig!
Er schaut zum Fenster hinüber, es schneit nach wie vor ganz leicht. Petra Vinters Fußspuren müssen jetzt nahezu unsichtbar sein.
Er geht nicht zum Fenster, um nachzusehen.
XXXI
W as würde der Künstler leisten, wenn er seine Umwelt nicht für seine Kunst bezahlen ließe? Würde es die Kunst besser machen oder nicht?
Eine hypothetische Frage, die nicht zu beantworten ist.
Der kreative Prozess ist von seiner Interaktion mit der Umwelt abhängig. So ist es immer gewesen. Wird es immer sein. In dieser zugleich
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