Komm
ist das Leben. Man muss auf sich aufpassen.
Ein Künstler hat als Mensch die gleiche Verantwortung wie alle anderen Menschen: für sein eigenes Verhalten. Das ist alles. Dafür, was er mit seinem Pinsel oder seiner Feder tut, trägt er nur Verantwortung in Bezug auf sein Talent. Es ist die Verantwortung des Künstlers, sein Talent zu nutzen, damit es zu größtmöglicher Entfaltung kommt, einerlei, was es ihn kostet …
Lula. Es war das einzige Mal, dass er kurz davor stand, seine Frau zu verlassen. Er lächelt bei dem Gedanken. Natürlich hat er es nicht getan. »Kurz davor« ist auch übertrieben. Jedenfalls so wie er sich daran erinnert. Lula war alles, was man sich erträumte. Bis sie zu viel davon wurde. Es hatte keine Zukunft. Das wusste er schon, bevor sie durchdrehte und die Ehefrau anrief. Catering ist wunderbar, das heißt Speisen für Gesellschaften anzurichten, und es war doch nicht seine Schuld, dass sie falsche Erwartungen hatte. Die fehlende Scheidung. Man kann doch nicht in einem Traum leben. Wenn sie bloß den Mund gehalten hätte, dann könnte sie es heute sein und nicht Vera. Wieder lächelt er. Vera hat ihre Vorteile. Den Sohn und den Ehemann in einem anderen Land. Das ergibt seine natürlichen Grenzen. Es grenzt die Probleme ein. Lulas Haut war weich wie ein Stutenbauch.
Man kann nicht in einem Traum leben!
Petra Vinters Haut?
Er fährt fort:
… einerlei, was es ihn kostet als Mensch. Es ist die gleiche Verantwortung, die alle Menschen haben: aus ihrem Talent, ihren menschlichen Eigenschaften und Möglichkeiten das Beste zu machen. Wenn sich der Künstler in Bezug auf die äußere Wirklichkeit klug verhalten muss, leidet darunter …
Sich klug verhalten?
Er hebt den Kopf und schaut aus dem Fenster. Es hat seit Jahren nicht mehr so heftig geschneit.
»Du bist es, dem etwas entgeht«, flüstert Petra Vinter. »Es gibt eine Wirklichkeit in der Wirklichkeit. Auf deine Art findest du sie nicht.«
Er ist immer klug gewesen. Hat sich klug verhalten.
Etwa nicht?
Frode Jørgensen wusste, was Kunst war, er wusste, was sich verkauft, und er wusste, wann sich beides deckte.
Petra Vinter ähnelt Lula.
Er muss zu der Perspektive zurückkommen.
Kunst und Perspektive.
XXII
P etra Vinter steht am Fenster.
»Der Grad der Verantwortung sinkt im Quadrat der Anzahl der Menschen, auf die sie verteilt werden kann«, sagt sie. »Somit muss eine Person allein notwendigerweise die ganze Verantwortung übernehmen, während zwei jeweils nur ein Viertel Verantwortung empfinden, drei ein Neuntel, vier ein Sechzehntel und so weiter und so fort.«
Es war ein Abend, an dem es Bindfäden regnete. Er weiß noch, wie er hinter Petra Vinter und hinter der Fensterscheibe den Regen vom Himmel herabfluten sah.
Er trank sein zweites Glas Armagnac, oder war’s das dritte?
XXIII
I n der Welt der Kunst gelten andere Regeln , schreibt er. Siehe Picasso, vielleicht musste er sich als Mensch den Freunden gegenüber verantworten, von denen er sich die Ideen nahm, aber daraus lässt sich kein Urteil über seine Kunst ableiten.
Geht also alles, wenn es nur Kunst ist? Verkaufe die uneheliche Geburt deiner Großmutter, den Liebhaber deiner Schwester, das Grauen deines Freundes? Ist es so? Gibt es überhaupt keine Grenzen?
Der Künstler hat seinen Mitmenschen gegenüber eine Verantwortung. Als Mensch. Er zögert. Der Betrachter, der Vermittler der Kunst hat sie nicht. Kann sie nicht haben.
Verlockend. Und was ist mit den Lampenschirmen der Nazis aus jüdischer Haut? Wenn sie ästhetisch schön waren, waren sie sicher auch Kunst. Sie waren angefertigt, der Jude war tot, könnten sie dann nicht auch in deinem Büro hängen?
Und wenn Lampen keine Kunst sind, was, wenn man aus demselben Material Skulpturen gemacht hätte?
Er löscht die beiden letzten Sätze. Flucht. Schaut auf die Uhr, zweiundzwanzig siebzehn. Es ist nicht zu spät. Er klickt sie in der Adressliste im Computer an, Petra Vinter, wählt ihre Nummer.
Wenn es eine Grenze gibt, wo verläuft sie dann?
Er legt auf, bevor der Anruf angenommen wird.
Man darf Menschen nicht töten, um Kunst zu machen. Aber wenn der Mord stattgefunden hat und ein Zeuge beschreibt ihn auf eine Weise, die künstlerischen Wert hat, soll es dann keine Kunst, keine Literatur sein? Und soll sie nicht verlegt werden?
Was aber, wenn der Zeuge bei einem Mord, der hätte verhindert werden können, nicht eingriff?
Wenn der Mörder selbst
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