Kommissar Morry - Der Judas von Sodom
sich tief über das Glas, das der gelbe Kellner ihr serviert hatte. Sie nippte nur. Das fade Zeug schmeckte ihr nicht. Sie fühlte sich unglücklich wie selten zuvor.
„Könnten wir nicht eine Taxe rufen lassen, James?“ fragte sie gequält. „Ich möchte weg.“ „Wohin?“ fragte James Hatfield. „Wohin willst du fahren? Weißt du etwas Besseres?“
Kate Hugard lächelte krampfhaft. „Etwas Besseres“, wiederholte sie gedehnt. „Natürlich weiß ich bessere Lokale. Es ist überall schöner als hier.“ James Hatfield spielte zerstreut mit seinem Bierdeckel. In seinem verschlossenen Gesicht regte sich keine Miene. Man sah ihm nie an, was er gerade dachte.
„Wo wohnst du?“ fragte er nach einer Weile. Kate Hugard blickte verdutzt auf. „In einer kleinen Pension in der Nähe der Austern Bar“, sagte sie widerstrebend. „Es wohnen noch ein paar von meinen Kolleginnen dort. Aber warum fragst du?“
„Könnten wir nicht zu dir gehen?“ murmelte James Hatfield mit gesenktem Blick.
„Nein“, sagte Kate Hugard peinlich berührt. „Das geht nicht. Die Pensionswirtin duldet keine Herrenbesuche. Sie ist sehr streng in diesen Dingen.“
„Wie wäre es dann mit einem Hotel?“ bohrte James Hatfield hartnäckig weiter. „Ich weiß ein nettes Boardinghouse ganz in der Nähe. Der Portier kennt mich. Er stellt nicht viele Fragen. Kommst du mit?“
Kate Hugard schüttelte den Kopf. „Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann sieh draußen nach, ob der Regen inzwischen aufgehört hat.“
James Hatfield erfüllte ihr den Wunsch. Er erhob sich auf der Stelle. Er verschwand durch den Hinterausgang. Drei Minuten lang etwa blieb er weg. Diese Zeitspanne wurde zu einer unerträglichen Folter für Kate Hugard. Jeden Moment erwartete sie, von den schlitzäugigen Gelben belästigt zu werden. Sie sah schwarze Gesichter, die sie hungrig anstarrten. Sie sah in die verschleierten Augen der Kreolen, die in ihrer Verschlagenheit an die Lichter beutehungriger Raubkatzen erinnerten. Kate Hugard winkte den Kellner herbei. „Zahlen“, murmelte sie mit brüchiger Stimme. Sie legte mit zitternden Händen die Münzen auf den Tisch. Dann erhob sie sich. Als James Hatfield wieder in der Tür auftauchte, trug sie bereits Hut und Mantel. Ungeduldig trieb sie ihn zum Aufbruch. Sie konnte kaum erwarten, bis er seinen Überzieher angelegt hatte.
„Es regnet nicht mehr“, sagte er, als er sie aus dem Lokal begleitete. „Wir kommen trocken heim. Ich werde dich bis zu deiner Pension begleiten.“
Sie gingen die gleiche Strecke zurück, die sie gekommen waren. Zur Linken zogen sich die brüchigen Häuserfronten hin, rechts war die Themse. Das eiserne Geländer war naß vom Regen. Dunkel lastete der Herbsthimmel über dem Fluß. Die nächste Laterne war weit entfernt.
Kate Hugard schmiegte sich zärtlich an ihren Begleiter. Sie hatte das Gefühl, ihn etwas schroff behandelt zu haben. Sie wollte ihn nicht verlieren. Gerade sein wortkarges Wesen fesselte sie.
So hatte sie auch nichts dagegen, als er mitten auf dem Sodom Wall stehenblieb und sie gegen das Geländer preßte. Sie kannte die Männer und spürte seine Hände, die mit festen Griffen über sie hinglitten. Zärtlich nahm sie den Kuß entgegen, den er auf ihre Lippen drückte. Sie strich ihm über das Haar. Sie hielt die Augen geschlossen, wie jedes Mädchen, das einen Mann küßt.
„Nicht, James! Nicht“, flüsterte sie plötzlich. „Du tust mir weh. Wir wollen weitergehen.“
Der helle Seidenschal, den sie trug, legte sich auf einmal wie eine würgende Schlinge um ihren Hals. Sie konnte kaum noch sprechen. Sie konnte kaum noch richtig atmen. In ihren Schläfen sang und dröhnte das Blut. Aus entsetzt aufgerissenen Augen starrte sie auf den Mann, der sich weit über sie beugte. Sein Gesicht verdämmerte und zerfloß zu einem formlosen Fleck. Sie wollte schreien. Sie wollte sich losreißen. Jäh und brutal griff die Angst nach ihrem Herzen. Schwarz und düster fiel die Todesfurcht über sie her. Sie spürte, daß ihre Füße den Halt verloren. Die Querstange des Geländers brach ihr fast das Rückgrat. Die höllischen Schmerzen nahmen ihr die Besinnung. Es wurde ihr schwarz vor den Augen. Das Herz zuckte gefoltert gegen die Rippen. Es schlug heiß und in rasenden Stößen.
„James“, gurgelte sie mit verlöschendem Bewußtsein. „Was tust du? Laß mich doch los!“
Es waren die letzten Worte, die sie noch mit äußerster Mühe hervorbrachte. Der Seidenschal
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