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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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vorgelegt, wie der Körper einer Frau funktioniere, was zu tun sei, damit sie schrie und stöhnte und ihm Blumen zu Füßen warf. Aber er brachte es nicht über sich. Es war zu beschämend, vor allem, weil es nicht unwahrscheinlich schien, dass seine Fragen mit Lehrbuchabbildungen beantwortet würden, die das ganze erotische Geheimnis zu einer Abfolge von Bewegungen verkommen ließen, geordnet wie ein Square Dance.
    Lavell lehnte sich wartend zurück. Sein Stuhl knackte. Wir haben es gemacht!, wollte Samson schreien; stattdessen hustete er und sagte: «Mit Anna? Eigentlich unverändert. Neulich war sie ziemlich aufgebracht.»
    «Ja?»
    «Sie fragte mich, ob ich noch einen Funken Empathie hätte. Für sie, für alles, was sie jetzt gerade durchmacht.»
    «Und?»
    «Es ist traurig. Manchmal setzt sie so eine Miene auf, bei der mich ganz furchtbare Gefühle überkommen. Aber ich glaube, im Augenblick fällt es mir schon schwer genug, herauszufinden, wie ich mich selber fühlen soll – es ist schwierig, mir auch nur ansatzweise vorzustellen, wie es für sie sein mag.»
    «Interessante Wortwahl, Empathie.»
    «Warum?»
    «Aus ebendem Grund, den Sie genannt haben. Empathie ist die Fähigkeit, sich in jemand anderen einzufühlen oder mit ihm mitzufühlen. Dafür muss man sich auf die Erinnerung stützen, etwas Ähnliches selbst erlebt zu haben – genau das, was Ihnen unmöglich ist.»
    «Wie wahr.»
    Lavell hob die Hände. «Und, was haben Sie ihr gesagt?»
    «Ich habe sie in den Arm genommen. Sie weinte, also schloss ich sie in die Arme.»
    «Gut gemacht», sagte Lavell.
    Schließlich landeten sie, wie so oft, bei seiner Kindheit. Die Erinnerungen kehrten in keiner erkennbaren Ordnung zurück. Warum diese oder jene in einem bestimmten Moment auftauchte, wusste er nicht. Es zu wissen hätte bedeutet, den Lauf der Dinge zu verstehen.
    Dann kehrte ihr Gespräch wieder an die Oberfläche der Gegenwart zurück, durchbrach das Geräusch draußen in den Bäumen zankender Vögel, und gleichsam aus der Luft gegriffen fragte Lavell: «Wissen Sie, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein?» Zwischen seinen fleischigen Lippen schien das Wort fehl am Platz. Samson dachte an Jollie Lambird, was ihn verlegen machte, und er senkte den Blick auf seine Schuhe, die er zu glänzend fand.
    «Ich weiß nicht. Vielleicht.»
    «Und was ist mit Anna?»
    «Schauen Sie, es ist alles etwas verwirrend.»
    «Das will ich meinen. Ein Augenblick vergeht» – Lavell schnipste mit den Fingern –, «und plötzlich sind Sie verheiratet. Das haut jeden um.»
    Samson stellte sich Anna vor, wie sie sich am Morgen über ihn gebeugt hatte. «Sie ist hübsch. Wunderschön und nett und hat nichts, was nicht liebenswert wäre. Aber warum sie und keine andere?»
    «Das, müssen wir annehmen, ist eine Wahl, die Sie nach Erfahrungen mit anderen Frauen vor Anna getroffen haben.»
    «Aber wer ist sie? Mitten in der Nacht wache ich auf, und sie liegt neben mir. Manchmal hält sie im Schlaf den Atem an. Ihr Kopf sinkt aufs Kissen, in einer Minute ist sie weg, und dann hört sie plötzlich auf zu atmen. Als wäre sie gerade in einen kalten See gesprungen. Wie die plötzliche Offenbarung ihres Selbstbewusst -»
    «Ihres Unbewussten.»
    «Ihres Unbewussten, als hätte es ihr einen Schrecken eingejagt. Manchmal möchte ich ihr auf den Rücken klopfen, damit sie wieder Luft holt, aber immer, wenn ich glaube, jetzt läuft sie gleich blau an, setzt der Atem wieder ein, als hätte er nie ausgesetzt, als wäre sie nicht so nahe dran gewesen.» Samson zeigte einen winzigen Spalt zwischen zwei Fingern.
    «Nahe an was?»
    «An dem Ort jenseits der Grenze all dessen, was sie sicher weiß. Dem gleichen Ort, an dem ich aufgewacht bin.»
    «Sie hatten eine Hirnverletzung. Glauben Sie nicht, dass da ein Zusammenhang – ein schrecklicher Zusammenhang – mit Ihrer Amnesie besteht? Das zerstörerische Werk des Tumors …»
    «Ich weiß, ich weiß. Ein bisschen weiter links oder rechts, und ich hätte nicht mal mehr gewusst, wie man aufs Klo geht. Vielleicht hätte ich auch in einem ewigen Jetzt gelebt, ohne Erinnerung an die eben vergangene Minute. Oder ich hätte meine Empfindungsfähigkeit verloren. Ich hatte Glück, sicher. Im Großen und Ganzen ist das, was ich verloren habe, fast … zu vernachlässigen. Aber ein Elend ist es trotzdem: Ich wache in kalten Schweiß gebadet mit dem Gedanken auf: Wer war ich? Was war mir wichtig? Was fand ich lustig, traurig, dumm, schmerzlich? War

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