Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
ein Leuchtzeichen, ein Farbfleck auf seiner Anonymität.
    Er durchquerte den Central Park, der voller Jogger und schreiender Kinder mit wunderbaren Einfällen war. Er beobachtete sie auf dem Spielplatz, ein kleines Land unter der Herrschaft ständig wechselnder Regeln der aus Stöcken und Steinen erfundenen Spiele. Sie brauchten so wenig, um sich zu entwickeln. Die entfernte Stadt erhob sich hinter den Bäumen.
    Er ging, bis er erschöpft war und sich irgendwann auf eine Bank setzte. Einmal näherte sich ein Mann mit zugeschnürter Kapuze, der einen schwer bepackten Supermarkt-Einkaufswagen voll unidentifizierbarer Dinge vor sich her schob. «Hamnemildegabe?», zischte er, einen Blick herausschleudernd wie einen abgenagten Knochen, und dann, ohne abzuwarten, ob Samson sich anschickte, in den Taschen zu wühlen, antwortete er sich selbst, «Vergeltsgott», als spielte er eine Rolle, aber ohne Überzeugung. Er erwartete nichts; vielleicht hätte er im Fall des Falles Samsons Almosen nicht einmal genommen. Als der Mann vorbeiging, fast seine Knie streifend, sah Samson die Dreckkrusten unter seinen Fingernägeln und seine schrundigen Hacken, die hinten aus seinen wie Slipper getragenen Turnschuhen lugten. Samson erinnerte sich nicht, in Los Altos je obdachlose Menschen gesehen zu haben, und jetzt konnte er sich nicht an sie gewöhnen, die weinende, nur mit einem Müllsack bekleidete Frau an der Fifth Avenue, den schlafenden Mann auf den Rostgittern, aus denen schmutzige warme Luft blies.
    Er dachte: Du kommst an, findest ein fertiges Leben vor und musst nur hineinschlüpfen.
    Er beobachtete die Leute. Männer und Frauen, die im Besitz ihres eigenen Gedächtnisses von der Arbeit nach Hause eilten. Sie waren ihm ein Rätsel, wie sie einfach um die Ecke bogen, als fänden sie im Schlaf nach Hause.
    Abends, wenn Anna von der Arbeit kam, erzählte sie ihm von den Herumtreibern, die beim Sozialdienst gestrandet waren, einem hundertfünfzig Kilo schweren Schwarzen, der durch die Gänge schlich und murmelte, er müsse raus, Essen ranschaffen für die tausend Kinder, die er gezeugt zu haben glaubte, oder Ken aus Japan, der sich zum Schutz vor imaginären Bomben der Yakuza unter den Tischen verkroch. Samson erzählte ihr von seiner Fahrt mit der Circle Line oder zur Aussichtsplattform des Empire State Building, und einen Moment hätten sie das gewöhnlichste Paar der Welt sein können. Aber sie waren es nicht, und es schien nicht sinnvoll, so zu tun. Er wollte Anna nicht traurig machen, aber wenn er sich dabei ertappte, wie er allzu mutwillig versuchte, die Rolle ihres Ehemanns zu spielen, widerten ihn sein Versagen und die Betrügereien an, und er zog sich noch weiter in sich selbst zurück.
    Meistens hütete er die Leere in seinem Kopf. Sein Gedächtnis hatte ihn im Stich gelassen, doch obwohl er all die Wochen in sich nachgeforscht hatte, fand er nirgendwo den Wunsch, es wiederzubekommen. Er spürte, wenn es jetzt zurückkehrte, würde er sich ihm verweigern, und das Wissen um diesen Verzicht, ein kleiner Akt des Widerstands, gab ihm ein Gefühl der Freiheit. Er sagte niemandem etwas von seiner Entscheidung. Er wollte sie Anna erklären, aber er wusste nicht wie, ein Pakt, den er mit sich selbst geschlossen hatte, eine gerissene kleine Rebellion gegen all das, was außerhalb seiner Kontrolle lag. Bald war sie ein so wohl gehütetes Geheimnis, dass nicht einmal die Ärzte eine Spur davon entdeckten, wenn sie mit ihren Suchscheinwerfern sein Gehirn ausleuchteten.
    Der leere Raum war riesig, aber Samson schützte seine Grenzen. Nur wenn er nachts im Bett lag, erlaubte er sich selbst, sie zu durchqueren, die Mondlandschaft, die sich von seinem zwölften Lebensjahr bis zu dem Tag erstreckte, da er im Krankenhaus erwacht war. Er bewegte sich hindurch wie die Wissenschaftler, die er im Fernsehen in Goretex-Parkas durch die Tundra stapfen sah. Er bewegte sich wie ein Mann, der sich der Gefahr, des Ernstes seiner Mission bewusst ist. Er bewegte sich rückwärts hindurch und verwischte seine Fußspuren.

K ein Astronaut, sondern ein Anglistik-Professor. Das hätte er sich denken können. Es war die natürliche Bestimmung eines Bücher verschlingenden Kindes, doch irgendwie entmutigte ihn die schiere Akkumulation des Wissens, das dieses Kind erworben haben musste, und er hielt sich bis weit in den August hinein von der Universität fern. Als er eines Tages endlich den Schritt durch die Eisentore tat, fragte er einen Aufseher nach dem Weg

Weitere Kostenlose Bücher