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Komoedie des Alterns

Komoedie des Alterns

Titel: Komoedie des Alterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Scharang
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Hang fast senkrecht ab, gewiß hundert Meter –, nicht abstürzte und Zacharias mit in den Tod riß.
    Schade; wären sie damals hinuntergestürzt, dachte Heinrich Freudensprung, müßte er nun nicht aus dem Flugzeug steigen und ins Flughafengebäude gehen. Müßte nicht dem Schurken Sarani begegnen, der am Telefon gesagt hatte, er hole ihn ab. Und Sarani halte Wort – ein absolut zuverlässiger und pünktlicher Schurke.
    Heinrich war in jenem Herbst nicht mehr in die Berge gegangen. Das Wetter kam ihm entgegen, schon Mitte November schneite es stark, Stadt, Tal, Stahlwerk,Wälder lagen unter einer weißen Decke, die so viel Licht ausstrahlte, daß Heinrich die weißen Kalkfelsen des Hochschwabs nicht vermißte. Außerdem war die Vorspielstunde auf Mitte Dezember verschoben worden, so daß Heinrich den November nutzen konnte, um die drei Stellen in Beethovens Frühlingssonate, an denen er bislang gescheitert war, vielleicht doch noch zu bewältigen.
    Belustigt hatte Freudensprung sich eingestanden, daß die dicke Schneedecke beruhigend auf ihn wirkte, ein Empfinden, das er bislang nicht gekannt hatte. Er sei, hatte er gedacht, auf die Achtzehn zugehend, alt geworden. Er fühlte sich mitgenommen von den Ereignissen im Stahlwerk, von dem Unfall auf der Fölzalm. Der ägyptische Freund habe aber auch, abgesehen von den außergewöhnlichen Vorfällen, durch die Gespräche, die sie geführt hätten, eine ständige Aufregung in sein Leben gebracht, wie sie ihm bislang fremd gewesen sei. Heinrich erinnerte sich, in den drei Wochen, die Zacharias in Graz im Krankenhaus gelegen war, mit dem Freund korrespondiert und diese Wochen als Zeit der Ruhe genossen zu haben.
    Und doch war er froh gewesen, als Zacharias endlich wieder zu Besuch kam. Der Ägypter versicherte Heinrichs Eltern, daß ihr Haus sein Zuhause sei, die Wohnung in Graz wiewohl weitaus komfortabler – in Kapfenberg mußte er, wenn er über Nacht blieb, zum Schlafen das Zimmer mit Heinrich teilen –, nannte er dagegen abfällig seine Studentenbude.
    Am Nachmittag stapften Heinrich und Zacharias, der nach dem Unfall noch leicht hinkte, eine Stunde durch den Schnee hinauf auf die Pötschen, setzten sich beimOrtner-Bauern in die Gaststube, die zugleich Wohnstube war, tranken Most, Heinrich zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch sich im Pfeifenqualm des Altbauern verlor, und sie schauten hinaus auf eine friedliche Landschaft, deren abgezirkelter Charakter – hier das Feld, dort der Wald, hier die Wiese, dort der Hohlweg – vom Schnee aufgehoben worden war.
    Doch die Ruhe währte nicht lange. Zacharias zog einen Skizzenblock heraus, warf ihn auf den Tisch und berichtete, zeichnend und erklärend, daß er vorhabe, die bestehenden Bremssysteme zu revolutionieren, indem er sie auf eine hydraulische Basis stelle, wodurch der Betrieb von Seilbahnen überhaupt erst zu verantworten sei, was für Österreich, wo alle hundert Meter eine Seilbahn auf einen Berg führe, von Interesse sein müßte.
    Als er, erschöpft von der eigenen Begeisterung, innehielt, zog Heinrich sein Schreibheft aus der Tasche und las ihm zwei Sätze vor, einen von Kleist, einen von Nestroy, als Beispiele für polyphones Schreiben, welches ihn fessle. Vielstimmig zu schreiben heiße, einen Satz, der in der Gegenwart spiele, in die Vergangenheit, von wo er den Ausgang nehme, springen zu lassen, aber auch in die Zukunft, wohin es ihn, unzufrieden mit der Gegenwart, ziehe.
    Der Altbauer kam an ihren Tisch und fragte, ob sie Hunger hätten. Sie nickten, daraufhin nickte auch er und ging in die Küche. Heinrich machte Zacharias darauf aufmerksam, daß er, wenngleich er vorgebe, seine Verletzung sei ausgeheilt, noch hinke. Der bestritt das nicht. Heinrich schlug gezieltes Training vor, und wissend, daß der Montag für Zacharias vorlesungsfrei war, erzählte er ihm von der Möglichkeit, an diesem Tag imKapfenberger Sportverein bei der Sektion Fechten, welche die Ausrüstung kostenlos zur Verfügung stelle, mit dem Florettfechten zu beginnen, bei dem – Heinrich sei probeweise dort gewesen – die Beine extrem trainiert würden.
    Zacharias zögerte auch diesmal keine Sekunde. Florettfechten, sagte er, während der Altbauer ein Schneidbrett mit einem großen Stück kaltem Geselchten auf den Tisch stellte, Brot daneben legte und sich zu den beiden setzte, sei der ideale Wintersport. Der Altbauer nickte.

8
    Die Geliebte
    In der Ankunftshalle des Flughafens bildete Heinrich Freudensprung sich ein,

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