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Komoedie des Alterns

Komoedie des Alterns

Titel: Komoedie des Alterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Scharang
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aufrecht und stolz einherzuschreiten. Er wollte bei Sarani den Eindruck erwecken, hier komme einer, mit dem sei nicht zu spaßen. In den Gesichtern der anderen Ankömmlinge stand allerdings die Frage, ob dieser Mann von Schwindel erfaßt und dadurch der Orientierung beraubt worden sei. Freudensprung wankte, ging unvermittelt ein paar Schritte in die Richtung, aus der er gekommen war, blieb dann stehen und horchte, so schien es, in sich hinein.
    Er war in der Tat äußerst konzentriert. Er wollte nicht nur nach außen akkurat wirken, auch von seinem Verstand verlangte er absolute Präsenz. Zudem sei er, trichterte er sich ein, guter Dinge. Am liebsten hätte er voll Tatendrang in die Hände geklatscht; sei doch der Augenblick nicht fern, da er mit dem Feind abrechnen werde. Aber er hatte zum Klatschen nicht die Kraft, auch schaffte er es kaum, sich aufrecht zu halten. Kopf und Schultern waren schwer, sie drohten nach vorne zu kippen und dabei den entkräfteten Leib zu Boden zu ziehen. Die Kränkung, das mußte er sich auch hier in Kairo eingestehen, die ihm durch die Intrige dieses nichtswürdigen Trios – Sarani, dessen Sohn David und Heinrichs Geliebte Lena – zugefügt worden war, habe ihn zerstört.
    Freudensprung suchte seit Wochen nach Techniken desWeiterlebens, er wollte mit sechzig noch nicht sterben, was er nicht in Widerspruch dazu sah, nicht mehr leben zu wollen. Eine dieser Techniken sollte darin bestehen, zu jenem Geschehen Distanz zu gewinnen. Freudensprung versuchte, sie anzuwenden, doch so sehr er sich bemühte, einen Fingerbreit wenigstens zurückzutreten von der Ungeheuerlichkeit , um aus der Distanz von einem Unglück sprechen zu können, über das man hinwegkomme, von einem Vorfall , den man verwinde, es gelang ihm nicht, er empfand den Schmerz so stark wie damals.
    Er stolperte mit dem einen zittrigen Bein über das andere und rettete sich zu einer Säule, lehnte sich an sie, spürte die angenehme Kühle des Betons und schloß die Augen, um zu Kräften zu kommen. Ja, Kraft, die brauche er, denn mit unsicherer Hand werde er Sarani weder erschlagen noch erwürgen können. Doch die Ungeheuerlichkeit brach wieder über ihn herein, und die Erinnerung setzte sich in Gang als ein Folterinstrument, das die Seele in Stücke riß und den Verstand zerrieb.
    Spätestens Ende Mai, dachte er, habe die Planung seines Untergangs begonnen. Diese Formulierung war ihm zu pathetisch. Ende Mai, er setzte nochmals an, sei sein Buch fertig gewesen. Im nächsten Jahr werde es unter dem Titel Amerika erscheinen. Heinrich war über die Maßen verliebt gewesen. Ein halbes Jahr zuvor, es war der Jahreswechsel von 2000 auf 2001, hatte er eine junge Frau gefunden, ja: gefunden. Er hatte das Gefühl, ein Leben lang auf sie gewartet zu haben. Und eine Frau, auf die man so lange wartet, lernt man nicht kennen, man findet sie.
    Ihr, hatte sie behauptet, sei es genauso ergangen. Sie war Mitte dreißig, Heinrich sechzig. Ihre Beteuerung,dachte er, hätte ihn stutzig machen sollen. So jung zu sein und großspurig zu sagen, sie habe ein Leben lang auf ihn gewartet, sei lachhaft. Doch auch ein halbes Jahr später, Ende Mai, war er nicht mißtrauisch geworden, als sie auf seine beiläufige Bemerkung, er würde in einem Anhang an das Buch versuchen, den Unterschied zwischen Amerika und Europa, der ein Gegensatz sei, zu beschreiben, mit ungewöhnlicher Intensität reagierte.
    Sie äußerte den Wunsch, mit ihm nach New York zu reisen und dort ihren Urlaub zu verbringen, den ganzen August, das wäre wunderbar. Anders als Heinrich, der dort gelebt und gearbeitet habe, sei sie nie länger als drei Tage dort gewesen und über das Hotelzimmer, das sie bewohnt und den Vortragssaal, in dem sie über ökonomische Themen referiert habe, nicht hinausgekommen. Sie habe von New York nicht mehr gesehen, als man von einem Taxi aus wahrnehmen könne. Das sei erstaunlicherweise nicht wenig. Wie schön müsse es sein, dort zu flanieren, mehr noch, ein paar Wochen dort zu leben.
    In Heinrichs Bemerkung war das Wort New York nicht gefallen. Er hatte von Amerika gesprochen, auch davon, daß er eventuell in den Anhang zu dem Buch einige Anmerkungen über die amerikanische Wirtschaft stellen werde, daß er aber nicht wisse, ob er sich das zutraue angesichts des Umstands, daß Lena vom Fach war: Wirtschaftswissenschaftlerin. Dennoch wollte er den Versuch wagen, denn was als wackelige Theorie begonnen hatte, war in den vergangenen Wochen zu einer soliden

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