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Komoedie des Alterns

Komoedie des Alterns

Titel: Komoedie des Alterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Scharang
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unterfordert war, jene Überforderung nicht genießen konnten und die Geräusche zuerst als Lärm verleumdeten und dann zur Strafe unter dem Lärm, der keiner war, auch noch litten. Heinrich und Lena hingegen hatten es gut. Ihre Augen waren zu einem einzigen offenen Blick geworden, und ihre Ohren zu einem Saal, in dem die Stadt ein Konzert gab.
    Eingebettet war auch ihr Wohnhaus, und liebevoll umrahmt: im Norden vom Washington Square, im Süden von Soho, im Westen von Greenwich Village, auf der anderen Seite vom East Village, mittendrin ihr Haus, und inmitten des Wohnhauses Lena und Heinrich, zwei Körper, so beglückt von der Stadt, daß sie sich Tag und Nacht wie ein Körper bewegten, im Bett, auf demBoden, im Bad, auf dem Tisch so ineinander verschlungen wie auf der Straße, im Café, im Park, im Museum, daß sie nicht mehr unterscheiden konnten, ob sie miteinander schliefen oder nebeneinander gingen, das Betrachten eines Hauses war eine körperliche Seligkeit, das Berühren der Hände ein geistiges Ereignis.
    So traf es Heinrich wie ein Faustschlag in den Magen, als Lena nach zwei Wochen schwebender Unbeschwertheit ihm zu verstehen gab, daß sie einmal allein durch New York flanieren wolle, schon um einer alten Neigung zu frönen, denn ihr sei, wohl von Natur aus, das Alleinsein zur zweiten Natur geworden. Gewiß, sie habe so schöne Tage wie die vergangenen noch nie erlebt, nun aber fordere die Gewohnheit ihr Recht, ihr, Lenas, Drang, allein zu sein, sei unbändig.
    Verdutzt schaute Heinrich sie an, denn er hörte aus ihrem Mund s eine Wörter: Eine Zeitlang allein sein zu müssen – Wörter, die, hatte er sie irgendwann an eine Frau gerichtet, stets Zweifel an seiner Liebe auslösten, Zweifel von einer Heftigkeit, daß sie nie mehr besänftigt werden konnten. Und nun redete Lena wie er. Während er sich jedoch im Lauf der Jahrzehnte angewöhnt hatte, sein Bedürfnis, zeitweise allein zu sein, verständnisheischend, niemals fordernd, vorzutragen, äußerte Lena das gleiche Bedürfnis gerade heraus und mit einer Selbstverständlichkeit, die ihn konsternierte.
    Am nächsten Morgen brach sie auf, abends kam sie nach Haus, um sich zu erfrischen, und ging wieder weg. Allein gelassen, fiel Heinrich in die alte Angewohnheit, nachts zu arbeiten und bis mittags zu schlafen. Er beschäftigte sich aber nicht wie beabsichtigt mit dem Gegensatz zwischen den USA und Europa, das werde er in Wienmit mehr Elan tun, denn Europa strotze derart vor Abneigung gegen Amerika, daß er diese Häme gegen das an seiner Weltmacht erstickende und sich an seinem Kapitalismus erdrosselnde Land am besten in Europa beschreiben könne.
    Heinrich warf sich vor, Lena nicht gefragt zu haben, wohin sie gehe, was sie vorhabe. Da hörte er den Schlüssel im Türschloß, atmete erleichtert auf, eilte Lena entgegen und umarmte sie. Sie drückte ihn an sich, so fest und heftig, als hätte sie ihn nach langem wiedergefunden. Die wenigen Kleidungsstücke waren rasch abgestreift, und die beiden warfen sich aufs Sofa.
    Wie jeden Tag gingen sie um Mitternacht in die Pitti Bar , um an einem Tischchen, das auf dem breiten Gehsteig stand und um diese Zeit für sie reserviert war, Wein zu trinken und in Olivenöl getränktes Brot zu essen. Die Männer an den benachbarten Tischen, fiel Heinrich auf, gaben sich Mühe, Lena nicht fortwährend anzustarren.
    Heinrich konnte Lena in Ruhe betrachten, denn sie war mit ihren Gedanken nicht bei ihm, und ihr Gesicht war der vierspurigen, mit Autos übervollen Einbahnstraße zugewandt. Sie sah aus, als würde sie in der nächsten Sekunde explodieren. Die Augen funkelten, die Stirn leuchtete, die Wangen glühten, und ihre Brustwarzen schienen das T-Shirt durchbohren zu wollen. Heinrich, auf einem Klappsessel sitzend, hatte das Empfinden, auf dem Gipfel des Lebensglücks zu sein. Die Blicke der Männer, meinte er, gälten auch ihm.
    Der Besitzer des Lokals drängte die Gäste freundlich zum Aufbruch, Lena stand auf, Heinrich aber wollte protestieren. Er konnte die Worte, die er auf den Lippenhatte, gerade noch hinunterschlucken. Auf dem Gipfel des Lebensglücks, wollte er sagen, gebe es keine Sperrstunde.
    Lena nahm Heinrich an der Hand, zog ihn über die Houston Street nach Soho und zeigte ihm die Thompson Street, ein altes Gäßchen mit niedrigen Backsteinbauten, das er zwar kannte, aber nie beachtet hatte. Vor einem Haus mit zierlichem, von zwei Säulen flankiertem Eingang blieb sie stehen, und ein Zittern durchlief ihren

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