Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Komoedie des Alterns

Komoedie des Alterns

Titel: Komoedie des Alterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Scharang
Vom Netzwerk:
Spekulation gereift. Die gipfelte in der Einsicht, daß die amerikanische Wirtschaft sich grundverschieden von der europäischen entwickelt hat.
    Die Nationalstaaten Europas traten im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert als neuer Souverän an die Stelle des alten, des Königs. Die USA, da sie jede Form von Zentralmacht ablehnten, wollten keinen Nationalstaat. Ihre Wirtschaft war deshalb nicht nur nationale Ökonomie, sondern immer schon Weltwirtschaft, weil die USA, ein Novum in der neueren Geschichte, ein Weltstaat waren, bevölkert mit Menschen aus aller Welt, die, endlich nicht mehr national beschränkt, auch ihr wirtschaftliches Wirken nicht mehr national einzugrenzen gedachten.
    Heinrich Freudensprung hatte sich bei der jungen Frau für das Skizzenhafte seiner Überlegungen entschuldigt, um sich vor ihren Fragen zu schützen, redete gleichwohl mit Feuereifer weiter, bis er bei der Behauptung anlangte, die Ökonomie der Amerikaner sei von Anfang an international und insofern imperialistisch gewesen. Den Vorwurf, imperialistisch zu sein, konnten die Amerikaner nicht verstehen. Was sich nie als Nationalstaat etablierte, war deshalb von der Gründung an ein Weltstaat und insofern eine Weltmacht. Aber nicht für immer.
    Bis zum Herbst, hatte er damals zu Lena gesagt – die Geliebte trug den Namen Lena Bauer, sie trug ihn vor sich her als ein Wappen: den Vornamen Lena als neckische Feder, sie steckte flatternd auf dem Familiennamen Bauer als auf einem ehernen Helm –, bis zum Herbst werde dieser Text abgeschlossen sein.
    Lena sofort: Diese Arbeit könne nirgendwo besser geschrieben werden als in New York. Heinrich verständnislos: Diese Arbeit habe mit New York nichts zu tun. Sie sofort: Warum er seine Wohnung in Manhattan, wenn er dort nichts mehr zu tun habe, nicht aufgebe, warum ersie nur für kurze Zeit vermiete, im Mai, Juni und Juli, warum nicht auch im August. Ob das mit einer alten Liebschaft zusammenhänge? Mit jener New Yorkerin, die auf Heirat gedrängt habe? Oder immer noch dränge? Ob er vorhabe, im August allein nach New York zu reisen? Heinrich: Das sei vorbei, sowohl die Arbeit in New York an dem Buch als auch die Liebe zu der New Yorkerin. Er habe nie von einer Liebschaft gesprochen, es sei Liebe gewesen.
    Sie sofort: Im August sei die Wohnung frei, sie sollten diesen Monat dort verbringen. Sein Amerika-Buch, schmeichelte sie ihm, sei, soweit sie das nach den wenigen Seiten, die sie gelesen habe, sagen könne, eine Art Göttliche Komödie Amerikas. Heinrich werde sie durch alle Stationen dieser Komödie führen, das könne für ihn, der dann einen letzten Blick, den Abschiedsblick, auf New York werfen werde, aufregend und melancholisch sein, aufregend aber gewiß für Lena. Niemand werde jemals so durch diese Stadt geführt worden sein.
    Heinrich nichtsahnend: Warum nicht. Hätte er, so seine Überlegung, nicht verständnisvoll, sondern ablehnend geantwortet, wie es der Sache angemessen gewesen wäre, er lehnte nun nicht als Wrack hier an der Säule.
    Heinrich wußte nicht, wann genau Lena den Sohn von Zacharias Sarani, David, zum erstenmal gesehen und wann die beiden füreinander Feuer gefangen hatten. Er wußte aber, wann er David zum erstenmal von Lena erzählt hatte. Es konnte nur im Februar dieses Jahres gewesen sein. David war Heinrichs zweiter Sohn. Heinrich hatte zwei Töchter und einen Sohn, David war sein zweiter Sohn – der Sohn des Freundes, des Feindes.
    Lena und Heinrich reisten im August nach New York.Sie wohnten dort – nicht, sie waren eingebettet. Das Haus in Manhattan hatte dreißig Stockwerke, die Wohnung lag im fünfzehnten Stock. Sie schauten nicht über andere Häuser hinweg, sie begegneten ihnen auf gleicher Höhe, sie mußten sich nicht ducken unter dem Schatten benachbarter Gebäude, das Licht meinte es gut mit Lena und Heinrich, es umfing sie.
    Der Fußboden hätte wegbrechen können, und sie wären nicht abgestürzt, denn sie standen auf einem Geräuschteppich, wie er dichter nicht geknüpft werden konnte. Hunderte von Tönen waren aufeinander abgestimmt, die Tonrhythmen so vielfältig, daß sie vom Klangkörper, den die Straßenschluchten bildeten, als eine großartige, Heinrich schätzte: achtundvierzigstimmige Fuge aufgeführt wurden. Heinrich wußte, daß das menschliche Gehirn im besten Fall einer achtstimmigen Fuge zu folgen vermag. Der Geräuschteppich Manhattans überforderte somit das Gehirn um das Fünffache, weshalb Menschen, deren Gehirn chronisch

Weitere Kostenlose Bücher