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Komoedie des Alterns

Komoedie des Alterns

Titel: Komoedie des Alterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Scharang
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positiven Begriff von ihr, die Elite wären, diesen Begriff nicht nur für sich, sondern schlechthin ablehnten. Sarani hatte den Eindruck, Hegel habe, indem er die bürgerliche Gesellschaft als geistiges Tierreich bezeichnete, dem Tierreich schweres Unrecht zugefügt.
    Am Nachmittag hatten die Freunde nach der Wanderung durch den sanften Ostabhang des Wienerbergs, des pannonischen Gegenstücks zum voralpinen Wienerwald, von wo aus sie die rätselhaften Bewegungen der Züge auf dem Verschiebebahnhof Kledering, ohne darüber zu sprechen, bewunderten, ihr Lieblingsgasthaus in Oberlaa erreicht und sich im Gastgarten niedergelassen, der sich im Hof eines Vierkanters befand, welcherzur Stallseite hin Tauben in einem alten Taubenschlag beherbergte, eine freie Herberge, von den Tauben sehr geschätzt, um nichts weniger von den beiden Freunden, die in Gesprächspausen den Vögeln zuschauten, ohne zu verstehen, nach welchen Regeln sie dort aus und ein flogen oder ob es überhaupt Regeln gab.
    Nun gingen die beiden in Richtung des Flughafenausgangs, unsicher auf den Beinen, was sie aber nicht wahrhaben wollten, denn der Umstand, daß sie sich, miteinander konfrontiert, nicht als Feinde empfanden, erfüllte sie mit so viel Zuversicht, daß sie sich stärker fühlten, als sie waren.
    Heinrich Freudensprung war gesprächslustig, seine Lippen aber klebten ausgetrocknet aufeinander, so daß er sie erst bewegen konnte, nachdem die Zunge in der Mundhöhle ein wenig Feuchtigkeit gefunden hatte. Sorgsam verteilte er sie auf den Lippen. Er habe sich gerade vorgestellt, sagte er, Zacharias hätte sich damals im Landtmann mit dem Gründer einer alternativen Zeitung geeinigt und auch nur an einer einzigen Ausgabe mitgearbeitet. Das wäre ein historisches Ereignis gewesen, zumindest in der Zeitungsgeschichte.
    Zacharias hätte, sagte Heinrich, von Neuerungen berichtet. Die Alternative zu dem, was es bereits gibt, sei für Zacharias die Neuerung. Für Heinrich sei es, wie Zacharias wisse, die Revolution. Er habe sich nicht begeistern können für das, was Zacharias Neuerung nannte, aber er habe es akzeptiert, schon deshalb, weil er, wie Zacharias, den Widerpart der Neuerung, die Erneuerung, widerwärtig gefunden habe. Nichts hätten sie so verabscheut wie Erneuerung. Und erst die Erneuerer! Die seien – das gelte bis zu diesem Tag – die Retter des gutenAlten, das sie mitschleppten in die schlechte Gegenwart. Erneuerung der Demokratie, der Kultur, der Moral und immer so weiter. Wer von Erneuerung schwärme, das sei ihre Ansicht gewesen, der wolle jede Neuerung verhindern.
    Er habe damals, sagte Sarani leise, jeden Tag als Glück empfunden, seine Stimme klang tonlos, als käme sie aus einem Trichter, der eigenmächtig, ohne einen Menschen, welcher hineinspräche, zu reden imstande sei. Sarani hatte offenbar keinen Tropfen Feuchtigkeit mehr im Mund, um seine Lippen zu benetzen. Er habe damals, sagte er, jeden Tag als Glück empfunden, sagte er, an dem er mit einem Buch in der Hand durch die Welt gegangen sei, welches ihn gerade dadurch geleitet habe, daß der Autor, Musil, es sich zum Prinzip machte, keine Anleitungen zu geben. Sie beide hätten den Mann ohne Eigenschaften zur gleichen Zeit entdeckt. Für Sarani sei dieser Roman nicht nur Lektüre gewesen, sondern die ebenso unausgesprochene wie unverstellte Ermutigung, die in der Kindheit und in der Jugend mit viel Umsicht erworbenen Erkenntnisse und Erwartungen nicht aufzugeben als Preis fürs Erwachsenwerden.
    Er nenne dieses Buch das Buch der drei Selbstverständlichkeiten, auf denen menschliches Leben beruhe, sofern es auf Menschlichkeit beharre: Atheismus, pragmatischen Nihilismus, Antimoralismus. Es gibt keinen Gott außer dem, den Menschen sich ausdenken, es gibt keine Werte außer denen, die Menschen als Vertrag schrecklichen oder ersprießlichen Zusammenlebens untereinander aushandeln, und es gibt keine Moral außer der, die einige Menschen zur Sekkatur der anderen aushecken. Er sei durstig. Barsch unterbrach Sarani sich, bliebstehen, und als er weiterredete, war seine Stimme einigermaßen gereinigt von dem röhrend Mechanischen und näherte sich dem Klang eines lyrischen Baritons, schwingungsreich, ohne zu vibrieren, sanft, aber nicht weich. Er sei, sagte er, ausgetrocknet bis in die Zehenspitzen. Stunden könne er durch die Wüste gehen, ohne einen Schluck zu trinken, nun aber vermöge er keinen Schritt mehr zu tun. Er habe tagelang nichts gegessen und getrunken. Im Auto seien

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