Komoedie des Alterns
September die Temperatur nächtens nicht unter 30 Grad Celsius gefallen war und er dennoch überlegt hatte, einen elektrischen Heizkörper anzuschaffen, wozu aber die Kraft nicht reichte. Die fünfhundert Meter bis zu dem Elektrohändler am Broadway traute er sich nicht zu, auch war ihm bewußt, daß es nicht die Temperatur war, die ihn frösteln machte und aufs Bett warf, sondern Eifersucht und Haß, Eifersucht auf Lena, Haß auf Sarani. Und nun Schweißtropfen!
Sogleich sah Heinrich die Welt deutlicher, sah, daßZacharias nicht, gestützt auf einen Melkschemel, die Position eines Fechters simulierte, sondern bloß auf einer Betonbank hockte. Du meine Güte, rief er und fragte sich dann still, wie ein Mensch derart zerfallen könne. Heinrich sah einen Kopf, der nicht mehr auf dem Rumpf saß, sondern vornüber hing, Arme, die hinter der Bank als tote Glieder baumelten, Beine, von denen jedes in eine andere Richtung strebte. Er hatte den Freund ein Jahr nicht gesehen – seit vierzig Jahren war es nicht vorgekommen, daß sie nicht mindestens zweimal im Jahr zusammengetroffen waren. Diese Zeit, dachte er, sei eine verfluchte Zeit gewesen, ehe sie mit einer Katastrophe endete.
Heinrich war zu Kräften gekommen, es war richtig gewesen, an die Säule gelehnt zu warten, bis Herzschlag und Atem sich verlangsamten, bis der Blick nicht mehr flackerte und der Fuß, wenn er ihn aufsetzte, nicht mehr umknickte. Also steuerte er auf Sarani zu und dachte sich Sätze aus, damit er vor dem Freund nicht ins Stottern geriete: Ob er noch wisse, wie er während der Arbeit in Ohnmacht gefallen sei. Und welche Geschichte er Heinrich, als er im Ruheraum des Stahlwerks wieder zu sich gekommen sei, als Wachtraumgeschichte erzählt habe. Heinrich, nur noch Schritte von Zacharias entfernt, schreckte zurück. Zacharias schaute auf, langsam, da in seiner Nähe jemand einen seltsamen Laut ausgestoßen hatte. Heinrich hatte gekeucht: Zacharias! Sarani schien die Stimme vertraut zu sein. Ausdruckslos starrte er sein Gegenüber an, als würde er Heinrich nicht wiedererkennen, was diesen so erschütterte, daß er lächelte, in der Hoffnung, dies möge die Erstarrung des anderen lösen. Und tatsächlich, Sarani nickte ihm wie aus einem Schlaferwachend zu und gab sich augenblicklich Mühe, ebenfalls freundlich dreinzuschauen. Außerdem versuchte er sich von der Bank zu erheben, auch das gelang ihm.
Suchend schaute er um sich, als habe er erwartet, der Freund komme in Begleitung, dann fragte er, wo Heinrichs Gepäck sei. Heinrich verspürte ein Glücksgefühl, als er Saranis Stimme hörte, diese trotz ihrer augenblicklichen Brüchigkeit klangvolle Stimme, die in Kontrast stand zu dem hageren Mann, und als Antwort wies Freudensprung auf den kleinen Leinenbeutel in seiner Hand als auf sein einziges Gepäckstück.
Sarani nickte wissend, er erinnerte sich, daß Freudensprung gewöhnlich ohne Gepäck reiste – fuhr er für längere Zeit an einen anderen Ort, schickte er die Koffer voraus, nichts verabscheute er mehr, als etwas mit sich zu schleppen. In diesem Moment des Erinnerns, in dem der Haß außer Kraft gesetzt war, ging Sarani mit entschlossenen Schritten auf Freudensprung zu und umarmte ihn. Der, erschrocken über die Keckheit, mit welcher der andere auf ihn zutrat, wartete schicksalsergeben darauf, erstochen zu werden.
Als Heinrich nach einer Schrecksekunde Zacharias’ Hände spürte, die reglos auf seinem Rücken lagen, beeilte er sich, seinerseits den Freund zu umarmen. Keiner der beiden wagte, sich als erster aus der Umarmung zu lösen. Also standen sie Statuen gleich in der Halle. Freudensprung flüsterte dem Freund zu, sie sollten gehen. Worauf Sarani leise antwortete, sie müßten gehen. Beide lösten sich gleichzeitig aus der Umarmung. Jemand rief Sarani einen freundlichen Gruß zu; der grüßte kurz und unfreundlich zurück. Der andere kam mit ausgebreiteten Armen auf Sarani zu; der aber wandte sich ab.
Freudensprung war schockiert. Wie, fragte er sich, könne Zacharias den alten Geschäftsfreund Mustafa derart herablassend behandeln? Freudensprung erinnerte sich, daß Zacharias diesen Mann nie gemocht hatte; gewiß, er hatte sich auf Zacharias’ Kosten bereichert, ihn aber nicht schamlos ausgenutzt. Merkwürdigerweise ärgerte Sarani die Abhängigkeit von Mustafa um so mehr, je leichter er im Lauf der Jahre die Kosten der Abhängigkeit verkraftete.
Mustafa, gewohnt, von allen umschmeichelt zu werden, fühlte sich von Sarani derart
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