Konrad Sejer 03 - Wer hat Angst vorm boesen Wolf
das Entsetzen und Grauen hervorrief. Erst nach seiner Einweisung in die Klinik war auch ein Funken von Verständnis für ihn zu beobachten gewesen. Der Arme ist doch krank, hieß es jetzt, wie gut, daß er endlich sachkundige Hilfe findet. Angeblich war er ja fast verhungert. Es hieß, er sei in seinem Bett in der Sozialwohnung gefunden worden, abgemagert wie ein Kriegsgefangener. Dort hatte er auf dem Rücken gelegen, die Decke angestarrt und mit monotoner Stimme vor sich hin gesungen: Erbsen, Fleisch und Speck. Erbsen, Fleisch und Speck. Immer wieder.
Gurvin dachte an Ereignisse von vor langer Zeit zurück. Ab und zu schaute er aus dem Fenster. Im tiefsten Herzen hoffte er wohl, daß Errki nicht auftauchen werde. Er war so unerträglich anders. Schwarz und scheußlich und ungepflegt. Seine Augen waren zwei schmale Spalten, die sich niemals richtig öffneten, ab und zu fragte man sich, ob sich dahinter überhaupt Augen befanden, wie bei normalen Menschen, oder ob dort nur ein schroffer Abgrund klaffte, durch den man direkt in das verkorkste Gehirn blicken konnte.
Und doch mochte Gurvin einfach nicht glauben, daß Halldis tot sein sollte. Er hatte Halldis und Thorvald schon als Kind gekannt, er hatte sie beinahe für unsterblich gehalten, und er konnte sich ihren kleinen Hof nicht leer und verlassen vorstellen. Sie war doch immer dort gewesen. Bestimmt hatte der Junge etwas anderes gesehen, etwas, das er falsch verstanden und das ihm angst gemacht hatte. Errki Johrma zum Beispiel, der hinter einem Baum lauerte. Das reichte aus, um wirklich jeden seinen klaren Blick einbüßen zu lassen. Vor allem einen überspannten Jungen, der selbst nicht immer so recht bei Verstand war. Beide Seitenfenster waren geöffnet, aber Gurvin war trotzdem in Schweiß gebadet. Er war fast oben angekommen und sah schon das Dach von Halldis’ Vorratshaus. Es war wirklich erstaunlich, daß eine alte Frau noch so tadellose Ordnung halten konnte; er stellte sich vor, daß sie praktisch ununterbrochen mit Harke oder Sense auf ihrem Hofplatz herumpusselte. Und das stimmte ja auch. Jetzt sah er den Platz, trotz der Dürre grün und üppig. Überall sonst war das Gras gelb. Nur Halldis konnte der Natur trotzen. Vielleicht trotzte sie auch nur dem Gießverbot. Er starrte zum Wohnhaus hinüber. Einem niedrigen roten Haus mit roten Fensterrahmen. Die Haustür stand offen. Und er erlitt den ersten Schock. In der Tür konnte er einen Kopf und einen Arm erkennen. Er fuhr zusammen. Verwirrt machte er den Motor aus. Er sah zwar nur Kopf und Arm, wußte aber, daß Halldis tot war. Da hatte der Junge doch wirklich die Wahrheit gesagt! Zögernd öffnete er die Autotür. Denn obwohl alle sterben müssen und obwohl Halldis eine alte Frau gewesen war, war er plötzlich mit dem Tod allein.
Gurvin hatte schon häufiger Tote gesehen, er hatte nur vorübergehend vergessen, welch seltsames Gefühl das war. Dieses unfaßbare Gefühl, allein zu sein, mehr als sonst. Der einzige zu sein. Er stieg langsam aus dem Auto und ging mit kurzen Schritten weiter, so als wolle er die endgültige Konfrontation so lange wie möglich vor sich herschieben. Unwillkürlich schaute er noch einmal zurück. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Er konnte nur weitergehen, sich über sie bücken, einen Finger an ihren Hals legen, sich davon überzeugen, daß sie wirklich tot war. Nicht, daß er noch Zweifel gehegt hätte. Der Winkel, in dem ihr Kopf zu ihrem weißen Arm lag, ihre gespreizten Finger, das alles sagte genug. Aber er mußte sich von ihrem Tod überzeugen. Danach konnte er sich ins Auto setzen, einen Krankenwagen bestellen und mit einer Zigarette und Musik im Radio warten. Im Haus brauchte er nichts zu unternehmen. Das hier war ein natürlicher Tod, was sollte er da groß überprüfen? Er hatte die Tote fast erreicht, als er zurückfuhr. Eine graue, milchige Flüssigkeit war über die Treppe geflossen. Vielleicht hatte sie ein Gefäß in der Hand gehabt, das sich bei ihrem Sturz entleert hatte. Er legte die letzten Meter mit hämmerndem Herzen zurück.
Und ihr Anblick überwältigte ihn ganz einfach. Er glotzte einige Sekunden lang vor sich hin, erst dann konnte er deuten, was er da vor sich hatte. Sie lag mit gespreizten Beinen auf dem Rücken. Mitten in ihrem runden Gesicht, unter dem linken Auge, war eine Hacke tief eingedrungen. Ein Stück der blanken Schneide war zu sehen. Der Mund stand offen, die Prothese war verrutscht und machte aus dem ihm so vertrauten Gesicht eine
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