Kopernikus 3
einem Pferderücken stehend rings um die Manege geritten war. Fleitman nahm sich vor, die Pferde und alle ihre berühmten Reiter zur Hauptattraktion des Zirkus zu machen. Sie alle sollten wieder auferstehen: North, Robinson, Ducrow, Salmonsky, der große Reiter aus dem Baltikum; auch ein Carre und ein Schumann würden nicht fehlen. Und schließlich wäre da ein Philip Astley, der die Kunststücke begutachten würde und der sich, auf die Knie fallend, vor den großen Koch-Sisters, die auf einem gewaltigen Telegrafenmast turnen würden, verbeugen würde. Aber das Programm durfte nicht zu sehr aus dem Rahmen fallen. Es würde niemanden stören, wenn die Details nicht ganz authentisch wären, aber aus Gründen der Ästhetik würde er alles ganz naturgetreu nachgestalten: als erstes die Ouvertüre, gespielt von tausend Hörnern, dann die Voltigeure, dann Muskelmänner, dressierte Tauben, Gaukler, Clowns – wie viele Clowns würde er nehmen? – und ein Sprungbrettakt. Und dann eine Pause, in der rotnasige alte Männer Popcorn, Brezeln, Bier und Cola, Eiscreme und Süßigkeiten verkauften. (Sie müßten so bleiben, wie sie sind, dachte er, das wäre schlau.) Ende der Pause. Danach ein Trapezakt mit den Scheffers, den Craigs, den Hanion Voltas. Keiner würde fehlen. Sandow, Lauck und Fox, Cinquevalli, Caicedo und die Potters – er würde sie alle bringen. Dann der Akt mit den wilden Tieren. (Van Amburg könnte seinen Kopf in das Maul eines Löwen stecken), dann ein Seiltänzer, hundert tanzende Elefanten, Reiterkunststücke und schließlich das Finale mit den Clowns. Es gab auch noch andere Möglichkeiten: Sprungartisten, Balancierkünstler, Artisten auf einem rollenden Globus. Aber irgendwo mußte er es genug sein lassen.
Fleitman war zuversichtlich, einen Zirkus reproduzieren zu können – und ihn schief hinsetzen und ruinieren zu können. Aber die Konzeption würde perfekt sein: die größte Show der Welt. Das wird eine ganz realistische Sache werden, dachte er. Sie wird so realistisch erscheinen, daß ich vergessen werde, daß ich selbst sie erschaffen habe. Aber er wußte, daß alles unecht war; es war zuviel Rationalität dabei, die Sache zu planen. Fleitman selbst hielt den Stab in der Hand; er konnte seine eigene Rechtfertigung dirigieren.
Fleitman verbrachte die meiste Zeit vier Etagen unterhalb des Straßenniveaus im Computerkomplex des Unterhaltungsgebäudes. Der enge, kalte Raum, in dem er arbeitete, schien jeden Tag wärmer zu werden. Fleitman wußte, daß das unmöglich war: Die Temperatur wurde auf allen Etagen konstant gehalten. Er arbeitete jetzt nur noch in Unterkleidung. Ständig mußte er sich mit seinem nassen Unterarm den Schweiß von der Stirn wischen. Die Computer reproduzierten und projektierten alle die Zirkusse, die Fleitman vorher aussondiert hatte. Die Entwürfe mit den verschiedenen Bühnenbildern, Ausstattungen, mit zahllosen Vorschlägen für die richtigen Kostüme und Farben aus den einzelnen historischen Epochen der Zirkusgeschichte stapelten sich übereinander.
Fleitman liebte den Kontrast: Er packte römische Gladiatoren mit viktorianischen Ladys zusammen, er stellte ein unmöglich großes Orchester zusammen und ließ die Computer spezielle Musik für die Ouvertüre und das Finale komponieren. Er machte die Clowns so übertrieben, daß sie schließlich gar nicht mehr wie Menschen aussahen – sie bekamen kurze Haare, lange Pappnasen, Blumenkohlohren, übertrieben große Finger und Zehen. Einige waren klein wie Zwerge, andere riesengroß, und alle wurden mit knallbunten, leuchtenden Farben bemalt: orangefarbene Lippen, die sich von einem Ohr zum anderen zogen und die Hälfte des Gesichts bedeckten, schärf herausgehobene und ockerfarben nachgezogene Gesichtsfalten, Muttermale in gebrannter Siena, umbrafarbene Barte und blaue Raffzähne. Er verwarf die Konstruktionsart des Kolosseums und versteifte sich auf ein fünfstöckiges Gebilde, umringt von einer Pferderennbahn, Segeltuchwänden und Holzpfählen. Je mehr zufällige Veränderungen, dachte er, desto authentischer würde das Ganze. Er verdrehte die Entwürfe der Computer so lange, bis sie zu völligen Travestien geworden waren. Dabei kicherte er vor sich hin und wischte sich laufend die Stirn ab. Seine beste Idee war es wohl, während der Hochseilakte ein kleines Feuer in dem Zelt anzuzünden. Das würde den Artisten die Gelegenheit bieten, ihren Mut zu beweisen.
Fleitman erschuf sorgfältig jeden einzelnen Darsteller. Sie
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