Kopernikus 5
zieht, als wäre man ein verwundetes Tier, auf das sich die übrigen wie auf eine leichte Beute stürzen.
Ich muß überhaupt gestehen, daß der Gedanke, alle Menschen seien Brüder, durch meine Beobachtungen auf Schritt und Tritt widerlegt wurde. An einem Bahnhof zum Beispiel sah ich heruntergekommene, zerlumpte Gestalten, Rotweinflaschen in den Händen, die ganz offensichtlich aus der Gnade der Gesellschaft gefallen waren, ohne daß sich auch nur irgend jemand um sie gekümmert hätte. Wie ist so etwas möglich?
Ich habe in meinem kurzen Leben, das ich bisher draußen führte, einen Verkehrsunfall gesehen. Zwei Wagen waren an einer Kreuzung infolge der Unachtsamkeit eines Passanten ineinander gefahren. Beide Fahrer wurden schwer verwundet. Nun ist es klar, daß Menschen Fehler machen und versagen können. Es ist auch klar, daß nicht alle der Umstehenden die notwendigen medizinischen Kenntnisse haben konnten. Was ich aber in diesem Zusammenhang nicht verstehe, ist die Tatsache, daß sich die Neugierigen um den blutigen Vorgang drängten, als gäbe es hier etwas besonders Erstrebenswertes zu sehen.
Einige Verkehrspolizisten, die an der Unfallstelle eingetroffen waren, hatten Mühe, den Ambulanzen einen Weg durch die Menge zu bahnen. Ich konnte sogar sehen, daß man auf einzelne Passanten, die absolut nicht weichen wollten und sogar fotografierten, einprügeln mußte, um sie von der Stelle zu vertreiben, damit die Arbeit der Ambulanzen nicht behindert würde.
Ich schreibe Ihnen, lieber Dr. Glanable, diese wenigen Beispiele aus einer Fülle von Beobachtungen, die ich in diesen kurzen Tagen meiner Freiheit – meiner Freiheit? – und meines Lebens machen konnte, damit Sie wissen, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte, und damit Sie mir helfen, den Widerspruch in meinem Kopfe, zu dessen Auflösung ich keinen Zugang finde, aufzuklären. Obwohl wir uns zwangsläufig etwas auffällig benommen haben, glauben wir doch, daß wir in Dr. Brownmillers Wohnung in Sicherheit sein werden. Ich schreibe Ihnen hier die Adresse und bitte Sie, so bald wie möglich zu kommen. Ihr Maren.“
Joachim Körber
Ein Bombenprogramm
Das Fahren durch den dichten Feierabendverkehr war die übliche Tortur, mit der Thomas Carter sich schon abgefunden hatte. Es war zwecklos, mit seinem Kleinwagen die Spur wechseln zu wollen, denn die fünfzehn Fahrspuren links von ihm waren ebenso verstopft wie die, auf der er sich befand. Zum Teufel!
Es war ein heißer Sommertag, der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn und brannte in seinen Augen, die er deswegen, aber auch wegen der Sonne, zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt hatte, was ihm den Ausdruck einer nachtblinden Eule verlieh. Fluchend holte Carter ein schmutziges Taschentuch aus der Tasche und wischte sich Stirn und Nacken damit ab. Er war Mitte Vierzig, untersetzt, Bauchansatz, aufgeschwemmtes Gesicht. Gekleidet war er in jeder Hinsicht wie Der Kleine Amerikanische Angestellte; ungeachtet der Hitze trug er Hemd und Krawatte, dezent bis konservativ, einen hellen Anzug – wobei er sich bei den herrschenden Temperaturen ausnahmsweise einmal dazu hatte hinreißen lassen, das Jackett abzulegen – und helle Schuhe, wie sie vor fünf Jahren in Mode gewesen waren. Wie jeder acht Stunden im Büro getretene und gedemütigte kleine Angestellte wollte er jetzt auch gerne seinen Frust am Auto auslassen, konnte es aber nicht, weil Hunderte von Leuten wie er nach Hause fuhren, deren Frustration – wie seine – deshalb nicht gerade geringer wurde. Im Radio kam wie üblich nichts, abgesehen vom üblichen Feierabendgedudel degenerierter Musik, die er verabscheute.
Seufzend dachte er an seine Frau und seine Kinder. Was sie wohl augenblicklich machten? Wahrscheinlich sahen sie fern. Sie sahen immer fern. Sucht. Ja, das war es, sie waren süchtig. Fernsehkrank. Abhängig von der Glotze …
Aufgeschreckt durch das Hupen hinter sich, wandte Carter seine Aufmerksamkeit wieder der Fahrbahn zu. Er trat aufs Gaspedal, legte beschleunigend die paar Meter bis zum Fahrzeug vor ihm zurück, um dann heftig auf die Bremse zu treten. Verdammter Mist!
„… nun das Nachmittagsprogramm für euch, liebe Kinder. Und nach diesem kurzen Zeichentrickfilm beginnen wir auch gleich mit der Juniorenshow . Ich verabschiede mich schon von euch und wünsche euch recht viel Spaß.“
Zeichentrickfilm! Kaum war das Gesicht der Ansagerin vom Schirm verschwunden, sprang Billy Carter aus seinem Sessel und eilte in die
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