Kopernikus 6
Dinge hingehörten – einige sagten: Tauben, andere sagten: Rallen. Und auch diese Haarspaltereien fanden ein Ende. Der Dodo war vergessen.
Als Lewis Carroll 1865 Alice In Wonderland schrieb, glaubten die meisten Leute, er habe den Dodo erfunden.
Die Tankstelle in Memphis, an der ich telephonierte, hatte mehr zu tun als ein Einbeiniger beim Thai-Boxen. Irgendwann, zwischen dem ständigen Bimmeln der Glocke, merkte ich schließlich, daß ich durchgekommen war.
Am anderen Ende war ein Mann namens Selvedge. Mit ihm kam ich überhaupt nirgendwohin. Erst hielt er mich für einen Grundstücksmakler, dann für einen Anwalt, und jetzt argwöhnte er langsam, daß ich ein Betrüger sei. Und ich selbst war auch nicht mehr so ganz auf der Höhe. Ich hatte seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen. Ich mußte klingen wie ein Speed-Freak. Der einzige Fortschritt war, daß ich erfuhr, daß Miss Annie Mae Gudger (Spielkameradin von Jolyn Jimson) jetzt und schon länger die ehrbare Mrs. Annie Mae Radwin war. Dieser Kerl Selvedge mußte ein Sekretär, ein Faktotum oder so etwas ähnliches sein.
Mittlerweile klang unser Gespräch, als unterhielte sich ein kreischender Makao mit einem Haufen Mammutknochen. Dann klickte es plötzlich in der Leitung.
„Junger Mann?“ sagte eine neue Stimme; die Stimme einer alten Frau mit südlichem Akzent, sehr gepflegt, aber doch mit einer Spur von Hinterwald.
„Ja? Hallo! Hallo!“
„Junger Mann, Sie sagten, Sie hätten mit einer Jolyn Sowieso gesprochen? Meinen Sie Jolyn Smith?“
„Hallo! Ja! Mrs. Radwin, Mrs. Annie Mae Radwin, vormals Gudger? Sie lebt jetzt in Austin. Texas. Früher hat sie in der Nähe von Water Valley, Mississippi, gewohnt. Ich bin aus Austin. Ich …“
„Junger Mann“, unterbrach die Stimme, „sind Sie sicher, daß meine haßerfüllte Schwester Alma Sie nicht hierzu angestiftet hat?“
„Wer? Nein, Madam. Ich habe eine Frau namens Jolyn …“
„Ich würde gern mit Ihnen reden, junger Mann“, sagte die Stimme. Dann, beiläufig: „Erklären Sie ihm, wie er herfindet, Selvedge.“
Klick.
Im Waschraum der Tankstelle spülte ich mir den Mund aus, so gut es ging, und versuchte, mich mit dem alten, verklebten Wegwerf-Gillette aus meiner Reisetasche zu rasieren. Es gelang mir, ein paar Breschen in mein Kinn zu schneiden. Ich zog mir saubere Jeans und das einzige andere Hemd an, das ich bei mir hatte, und ich kämmte mich. Dann stellte ich mich vor den Spiegel.
Ich sah immer noch aus wie etwas, worauf man den Hund hetzt.
Das Haus erinnerte mich an Presleys Villa, die irgendwo in der Nähe liegen mußte. Aus einer Hütte in den Mississippi-Hügeln hierher, in vierzig Jahren. Es gibt alle möglichen Wege, das zu schaffen. Ich fragte mich, welchen Annie Mae Gudger gegangen war. Glück? Räuberei? Göttliche Fügung? Harte Arbeit? Rechtswidrige Inbesitznahme und Wiedererlangung gegen Kaution?
Selvedge führte mich in das Sonnenzimmer. Ich fühlte mich wie Philip Marlowe, wenn er einen reichen Klienten trifft. Das Haus war voll mit der Art von Möbeln, wie sie irgendwann zwischen der Jahrhundertwende und den Fünfzigern gebaut wurden – die zeitlose Sorte. Sie sehen niemals großartig aus und niemals verkommen, und jeder Stuhl ist bequem.
Ich glaube, ich erwartete eine furchterregende Frau mit Ärmelschonern und einem grünen Augenschirm, die über einem mit Papieren übersäten Schreibtisch hockte und deren Einverständnis oder Zurückweisung Leben oder Tod für Tausende bedeutete.
Was ich vorfand, war eine bezaubernde Dame in einem grünen Hosenanzug. Sie war um die Sechzig und hatte immer noch strohgelbes Haar. Es sah nicht gefärbt aus. Ihre Augen waren so blau wie die meiner Lehrerin im ersten Schuljahr. Sie war drahtig und sah so aus, als gehörte das Wort fett nicht zu ihrem Wortschatz.
„Guten Morgen, Mr. Lindberl.“ Sie schüttelte mir die Hand. „Möchten Sie einen Kaffee? Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.“
„Ja, vielen Dank.“
„Bitte nehmen Sie Platz.“ Sie wies auf einen weißen Korbstuhl neben einem Glastisch. Auf dem Tisch stand ein Tablett mit Kaffeekannen, Tassen, Teebeuteln, Croissants, Servietten und Tellern.
Nachdem ich eine halbe Tasse Kaffee auf einmal hinuntergestürzt hatte, sagte sie: „Sie müssen ja über etwas sehr Wichtiges mit mir sprechen wollen.“
„Entschuldigen Sie meine Manieren“, sagte ich. „Ich weiß, ich sehe nicht so aus, aber ich bin Biologie-Assistent an der Universität
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