Kopernikus 7
Körper.
Er schrie sein Elend aus sich raus, mit Pausen, in denen er die Stille fühlte, die keine Antwort mehr zu ihm durchließ. Und schrie röchelnd, verstummend, weil seine Lungen, seine Stimmbänder, sein Körper sich weigerten, sein Geschrei zu formen und hinauszulassen in die ihn hermetisch umgebende Unterwelt.
Sie haben dich nicht im Stich gelassen. Sie sind vielleicht hinter einer Wegbiegung verlorengegangen, gerade in jenem unwägbaren Augenblick, in dem ich es nicht mehr schaffte, Westphals dunkelgrüne Cordjacke zu erhaschen.
Ich bin allein. Der Gedanke war auf einmal da. Er riß die Augen auf und sah nichts. Erlauschte und hörte nur seinen Körper von innen her monoton rauschen. Er rieb sich die aufgerissenen Augen, bis sie schmerzten. Aber die Dunkelheit blieb undurchdringlich. Wieder rieb er mit den Knöcheln der Hände an den Wänden entlang, nur um den Schmerz zu spüren. Über mir die Aula … oder der Sportplatz … oder die Straße. Er wußte keine Richtung mehr. Und unter mir? Immer feuchtere, grundwassergetränkte Erde, immer weniger Sand. Fester und klumpiger wird der Boden, undurchdringlicher und schwärzer. Und ich? Aber ein Ich zu denken fiel ihm zu schwer. Er begnügte sich damit, die Einzelheiten seiner Körperwahrnehmungen zu registrieren. Zusammenhänge konnte er nicht mehr herstellen.
Er richtete sich an der Wand auf, tastete mit den Händen langsam nach oben. Er fand aber keine Unterbrechung in der Mauer. Mit ausgestreckten Händen taumelte er weiter, ließ die linke Hand an der Mauer entlangstreifen. Manchmal hielt er inne, um an dem linken Handknöchel zu lutschen. Durch den Schmerz bewahrte er sich vor Persönlichkeitsverlust, vor Identitätsverlust, vor Realitätsverlust – vor der zunehmenden Kristallisierung seines Körpers. Ein schwarzer Schnee sank ununterbrochen, lautlos hernieder, während er fort und fort ging. Er war in einer Vorwärtsbewegung gefangen. Den Gedanken, den Weg zurück, zu dem Einstiegsloch zu finden, hatte er verworfen. Er glaubte manchmal, sich vorstellen zu dürfen, wie er am anderen Ende dieses unterirdischen Tunnels im Schulhof der Nachbarschule, des Gymnasiums, rauskäme, auftauchte, wo sie ihn, den Sonderschüler, anstarren würden. Sie würden ihn sicherlich wieder ins Dunkel hinabstoßen. Ein Aufstieg war ihm versperrt. Lange glaubte er so unter der Erde sich herumzutasten. Er kam an eine Kreuzung, er spürte es an den Luftveränderungen, und ging nach links weiter, weil er Angst hatte, seine Hände von der Wand zu lösen.
Ein tumber Gedanke: Wenn ich immer nach links gehe, komme ich irgendwie zurück. Aber wohin zurück? Er hatte verabsäumt, immer nach oben zu schauen, um, wenn möglich, auch den geringsten Lichtschimmer sofort erkennen zu können. Aber die Dunkelheit war gnadenlos.
Was war er denn? Wo war er denn? Wer war er denn?
Ein halbfertiges menschliches Gestell mit einem unbekannten amerikanischen Soldaten als Vater, der vor lauter Öde auf seiner Mutter herumgerammelt hatte. Und dem versoffenen Subjekt von einem Zuhälter, der nun in dem Loch herumhing, das er als sein Zuhause bezeichnen sollte, was ihm nie gelungen war. Ich bin doch schon immer allein gewesen. Und dabei gehört mein Körper mir noch immer nicht. Wie ungemacht, die groben, verletzten Hände. Und vor allem, was soll ich damit hier unten, wo nur noch Dunkelheit, Stille und Stein und Sand sind.
Er war in einer Ecke, wo zwei Wände zusammenliefen, zusammengesunken. Schlaf überfiel ihn. Eine gnädige Macht, die von Traumgestalten attackiert wurde. Er versank. Der Schlaf entzog ihn der Wirklichkeit. Er tötet das Gewissen, das Denken, das Handeln. Er spielt mit
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