Kopernikus 7
hatte nicht ausgereicht, etwas Neues in seinen Wahrnehmungen zu strukturieren. Er verschlief, wie in einem Radius um den Abwurf des Sprengkopfes das Leben verzischte, wie es in einem weiteren Radius verseucht wurde. Er verschlief alles, er hatte für Politik und deren Auswirkungen nie ein Bewußtsein aufbringen können. Die Realität war ihm schon zu früh vorenthalten worden. Was sollte er von den militärtechnischen Prozessen verstehen, die kübelweise über ihm eingeleitet worden waren. Er hielt mit beiden, muschelförmig geschlossenen Händen sein Geschlecht umfaßt, als wolle er es vor gefährlichen Strahlungen bewahren. Er hörte, im Schlaf befangen, der der Dunkelheit, der Stille und dem Atomschlag den Schrecken nahm, hundert Jahre alte, dunkle, samtene Negerstimmen einen Blues anstimmen, unterbrochen, blau und gestirnt wie der Himmel, begleitet von dem schrillen Gekreisch der Mundharmonika, der fiebrigen Vibration von Gitarrensaiten, dem Gestampfe von Füßen. Er überlebte mit seinem Körper, eine Verzögerung, ein Durchstehen der Sklaverei, ein menschliches Warten, den BLUES!
Jemand sagte in seinem vom Schlaf verschlossenen Kopf:
MY BABY IS GONE
Er verstand die Sprache nicht. Aber er fühlte, aufatmend, tief und voll süßem Elend.
MA PRETTY WORLD HAS GONE
Und er schlief seinen Blues über den Ausbruch des Dritten, West und Ost erfassenden, Weltkrieges, eine Abstraktion, hinweg. Unkundig des Englischen, unkundig des Dialektes. Nur noch: Analogie. Wiederholer der Situation. Überlebender ohne Zukunftsprogrammatik und Wissen. Mit den Händen seine Samenbank umschließend. Ich werde mir meine Menschheit nicht rauben lassen. Von niemandem.
I CAN’T DO NOTHING BUT JUST RING MY HANDS AND CRY
sang es jahrhundertealt, das Leben verteidigend, in ihm.
Er schlief.
EVERYTHING IS JUST A THING MA LOVE WILL NEVER CHANGE
Der Blues, irgendwoher, irgendwie, spielte auf seinem Gehör, auf seinen Sinnen und ließ ihn, zusammengekauert, zusammengesunken im unterirdischen Labyrinth unter der Schule, unter der Aula, überleben. Ein Lebensrhythmus, dessen er sich nicht bewußt war, ließ ihn ins Überleben hineinschlafen. Er wimmerte leise vor sich hin.
Und lauschte angespannt. Jahrzehnte schienen vergangen zu sein. Dennoch, die Zeit stand still. Er sog die Luft langsam ein, um kein Geräusch zu machen und umspannte seine Waffe. Er wartete.
Er hörte, wie sich Steine lösten und in das, was vom Tunnel übriggeblieben war, hineinfielen, wie Mörtel runterrieselte. Er fühlte den Druck von Steinmassen auf sich lasten und begann zu kriechen, bis ihn seine Knie schmerzten, weil der Steinschutt sie aufriß. Die Augen drückten sich ihm schwarz in den Kopf ein. Von vorn wehte ein lauer Luftzug gegen ihn, erst nur ein wenig und dann kräftiger werdend, als würden die schwarzen Steinmassen die Luft aus anderen Räumen in sich hineinsaugen. Die Luft wurde wärmer und roch verbrannt. Er mißachtete die Schmerzen an Händen und Knien und Ellenbogen und zog sich weiter vorwärts mit vortastenden Händen. Plötzlich fuhr er erschrocken zurück und verhielt bewegungslos. Etwas Weiches und Warmes, etwas Nasses hatte ihn berührt, war gegen seine vorwärts tastende Hand gestoßen. Er überwand ein neuartiges Entsetzen, das sich in seinem Nacken, schmerzhaft die Muskeln verkrampfend, festbohrte, und streckte die rechte Hand vor, ließ sie durch den Schutt kriechen in Richtung auf das Weiche, das Warme, das Nasse, das Körperhafte, in dasjenige, welches nicht in die Steinwelt hineinpaßte. Er tastete darüber hin. Erstarrt. Es war ein menschlicher Körper.
Er spürte, daß der Körper verzerrt, verbrannt und
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