Kopernikus 7
oder auf die Rückenlehne vor ihnen. Einige lesen Zeitung. Einer oder zwei reden. Manche schlafen. Ein junger Mann lacht – und bricht beinahe sofort ab. Wenn die Fensterscheiben klar wären, sähe man anstelle der Regenkollage trostlose Reihen von heruntergekommenen Gebäuden, Tankstellen, die mit winzigen Plastikfähnchen behängt sind, flutlichtbestrahlte Gebrauchtwagenplätze, Imbißbuden, leere Schulhöfe mit toten Bäumen, die aus dem Pflaster aufragen, drahtumzäunte Spielplätze, die die Kinder niemals benutzen. Und niemand macht sich je die Mühe, dies alles anzuschauen. Sie wissen alle, wie es aussieht.
Normalerweise bevorzugt Mason den Sitz am Gang, aber heute morgen sitzt er, irgendeinem obskuren Instinkt folgend, am Fenster. Er versucht zu ergründen, was ihn dazu drängt, die verschwommene Landschaft zu betrachten, versucht in Worte zu fassen, woran sie ihn erinnert und wie er sich fühlt. Er kann es nicht. Traurig – allenfalls das kann er sagen. Weshalb sollte es ihn traurig machen? Traurig. Aber da ist noch etwas anderes, etwas, das er zu fassen versucht, das ihm aber ständig entgleitet. Und sein Tasten ruft das Echo einer wiedererwachenden Furcht hervor. Es war ein Gefühl wie … es war so ähnlich wie … Voller Unbehagen drückt er die Handfläche gegen die Scheibe und versucht, ein wenig von dem Dunst wegzuwischen, der das Glas trübt. (Auch dabei fühlt er sich sonderbar. Ertappt umher, greift ins Leere – es ist weg.) Dort, wo er reibt, entsteht ein halbwegs klarer Fleck auf der Fensterscheibe, ein knapp umgrenztes scharfes Bild inmitten der schmierigen Verschwommenheit der Kollage. Mason starrt hinaus auf die Welt, er späht durch das gläserne Loch. Wieder versucht er, etwas zu erfassen, und wieder mißlingt es ihm. Irgendwie erscheint ihm alles verkehrt. Vage und dunkel steigt Ärger in ihm auf. Gebäude kriechen draußen vorüber. Er schaudert, berührt vom septischen Hauch der Entropie. Vielleicht ist es … wenn es – er kann es nicht. Wieso ist es verkehrt? Was stimmt denn nicht? Es sieht doch alles aus wie immer, oder nicht? Nichts hat sich verändert. Zu was könntest du es denn verändern? Wie zum Teufel soll es denn sein? Keine Worte.
Wieder sammeln sich Tropfen auf der Scheibe und schwemmen die Welt davon.
Auch bei der Arbeit hörte der Traum den ganzen Tag nicht auf, Mason zu beunruhigen. Er merkte, daß er ihn niemals für lange beiseite schieben konnte – irgendwie kehrten seine Gedanken immer zu ihm zurück, unaufhörlich, wie die Fliegen, die summend über den Blutlachen auf dem Steinboden kreisten.
Allmählich empfand Mason Ärger und ein leichtes Unbehagen. Es war nicht gesund, sich derart in einen Scheiß-Traum zu versenken. Es war krankhaft, und man mußte krank im Kopf sein, um so damit herumzuspielen. Es war krankhaft – und bei dem Gedanken an die schleimige Krankhaftigkeit, die in solchen Dingen steckte, empfand er Wut und auch eine leichte Übelkeit. Er hatte diesen Schleim nicht in seinem Kopf. Nein, der Traum hatte ihn heimgesucht, weil Emma nicht mehr da war. Es war schon hart für einen Mann, wieder allein zu sein, nachdem er so lange mit einer Frau zusammengelebt hatte. Er sollte losziehen und tatsächlich irgendein Weib aufreißen, statt bloß immer darüber nachzudenken. Er hätte es gestern abend tun sollen, dann brauchte er sich jetzt keine Gedanken darüber zu machen, was er Kaplan erzählen sollte. Er sollte sich die Spinnweben aus dem Hirn fegen. Abend für Abend in der verdammten Wohnung herumzusitzen und nie etwas zu tun – kein Wunder, daß er sich komisch fühlte und verrückte Träume hatte.
Beim Mittagessen – er saß an dem kunststoffüberzogenen Betontisch, neben sich die mit Fingerabdrücken
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