Kopernikus 7
ist, Tobias’ Phantasie hatte sich über dem Sandmann, der im Theater aufgetreten war, gerade deswegen, weil er ihn nicht selbst gesehen hatte, erhitzt.
Während die Urmiel flüsternd durch den Zwischenraum strich, zeigte sich über dem Sichtfenster, das zum Flur hinausging, ein graues, wie von einer schwarzen Maske halb verdecktes Gesicht. Der Sandmann hielt sein Gesicht schief, fletschte sein Gebiß, runzelte die Stirn, als hätte der kleine Tobias in seinen Gedanken Revue passiert.
Dann raschelte es an der Tür, die in den Schatten der dämmernden Kabine zurückwich. Der Sturm, der aus den Wänden kam, verschärfte sich, pfiff hohl und kalt. Reif senkte sich über die Sandverwehung und über Tobias herab, und der Sand strich auf den Flur und klemmte die geöffnete Tür fest.
Der Sandmann nahm seinen Sack von der Schulter herab und trat ans Bett heran. Mit einem gläsernen Auge und einem höhnischen Blick sah er auf Tobias hinab – so, als hätte er einen schönen Gruß an dessen Eltern bestellt. Der Junge unter dem Sand regte sich. Mit dem einen geöffneten Auge hatte er auf den Sandmann geblickt. Er rief etwas, aber das Geräusch wurde vom Pfeifen des Windes zugedeckt.
Mit einer fast nachlässigen Gebärde hatte der Sandmann, als sei dies eine Routineangelegenheit, Tobias mit zwei, drei Griffen in den Sack gesteckt. Als er durch die Türe glitt, lachte er höhnisch auf. Tobias, in dem Sack, war es bitterkalt. Als der Sandmann gebückt am Badezimmer vorüberkam, fiel aus der halb geöffneten Tür ein gelbes Licht.
Wieder, als Tobias auf dem Rücken des Sandmanns um sich schlug, lachte der Maskierte auf. „Hä, hä“, bellte seine rauhe Stimme. Dann erlosch das gelbe Licht, der Sandmann huschte den Gang hinab, es wurde wieder kalt, und bittere Tränen rollten über Tobias’ Gesicht.
Manchmal denkt man, daß Erwachsene große Kinder sind. Wenn man jemanden wiedertrifft, den man als Kind gekannt hat, so fallen einem die altbekannten, vielleicht vergröberten Züge des Kindes auf. Es ist ja klar, daß jede Person die Summe ihrer Erfahrungen ist und daß also der kleine Mann und die kleine Frau in der größeren Ausgabe enthalten sind.
Gleichwohl stürzte die Mutter Wagenseil in der Zeit, da die Urmiel im Spinnennetz gefangen war, wie einen riesigen Abhang, auf dem ihre gesammelte Erfahrung, ihr gesammeltes Wissen wuchs – hier ein fröhliches Lachen, eine zarte Regung da, geballte Energie fast an jedem Ort –, hinab. Es ist seltsam, wie leicht sich doch die psychische Sperre, die uns vom Abgrund trennt, lösen läßt. Es scheint, daß unter unseren Füßen ein schwankender Boden liegt, den man schon mit einem unachtsamen Schritt durchbrechen kann – hingegen scheint es ein schier endloser Kampf, wenn man wieder an Höhe gewinnen will.
Es versteht sich, daß Irene Wagenseil nackt in die Tiefe gefallen war. Als sie sich auf dem Boden regte, lag sie zwischen feuchten Pilzen da. Ein Schmetterling taumelte durch die Luft über ihr. Ein Dutzend roter Weinbergschnecken kroch – da sie noch nicht ganz bei Sinnen war – mit weißer, schleimiger Spur feucht über sie hinweg. Da schrie sie auf.
Ein riesiges Ding senkte sich, während sie auf dem Rücken lag – ein Mann? ein Tier? – auf sie herab. Schlamm troff von dem Ding auf sie, das wie eine riesige Fledermaus mit schlagenden Flügeln knapp über ihr verhielt. Sie schaute in ein spitzes Maul. Schaum troff in langen Fäden aus der Schnauze der menschlichen Fledermaus.
Der Farn links und rechts, das Moos unter ihr, die Lianen, die sie vom Himmel hängen sah, färbten sich wie der Himmel rot. Es war so laut in diesem Wald, daß Irene Wagenseil nicht mehr wußte, ob nur sie alleine schrie. Das Ding stieß einen heiseren Laut über ihr aus, und als Frau Wagenseil in Ohnmacht fiel – eine
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