Kopernikus 8
denkende Mann, jede denkende Frau weiß das. Sogar die Blöden und Hirnverbrannten erkennen es unterbewußt. Doch ein Baby, so ein herrliches Wesen, ein unbesudeltes, sauberes Tablett, ein ungeformter Engel, repräsentiert ein Stück neue Hoffnung. Vielleicht wird es ja nicht versaut. Vielleicht wächst es zu einem gesunden, selbstbewußten, verständigen, humorvollen Mann oder zu einer ebensolchen Frau heran. ‚Es wird jedenfalls nicht wie wir oder unsere Nachbarn werden’, schwören sich die stolzen, aber voreingenommenen Eltern.
Chib denkt das auch und schwört, daß sein Baby anders sein wird. Aber er hält sich selbst zum Narren, wie alle anderen auch. Ein Kind hat einen Vater und eine Mutter, aber es hat Trillionen Tanten und Onkel. Nicht nur unter den Lebenden, auch unter den Toten. Selbst wenn Chib in die Wildnis fliehen und das Kind selbst aufziehen würde, würde er ihm seine eigenen unterbewußten Annahmen geben. Das Kind würde mit Verhaltensnormen und Glauben aufwachsen, von denen sein Vater nicht das geringste wissen würde. Mehr noch, als in der Einsamkeit erzogenes Wesen würde das Kind wirklich ein merkwürdiger Patron werden.
Und wenn Chib das Kind in dieser Gesellschaft erzieht, so wird es wenigstens teilweise die Verhaltensmuster seiner Spielkameraden, Lehrer und so weiter annehmen, ad nauseam.
Vergiß also, aus deinem wunderbaren ungeborenen Kind einen neuen Adam machen zu wollen, Chib. Wenn es aufwächst und nur ein bißchen geistig gesund wird, dann liegt das daran, daß du ihm Liebe und Disziplin gibst, daß es mit seinen gesellschaftlichen Kontakten Glück hat und daß es darüber hinaus bei der Geburt mit der richtigen Genkombination gesegnet ist. Und das bedeutet, dein Sohn oder deine Tochter ist Kämpfer und Liebhaber gleichzeitig.
WAS DEM EINEN SEIN ALPTRAUM
IST DEM ANDEREN SEIN FEUCHTER
TRAUM
sagt Großpapa.
„Ich habe mich erst gestern mit Dante Alighieri unterhalten, und er hat mir gesagt, was für ein Inferno an Dummheit, Grausamkeit, Perversion, Gottlosigkeit und brutaler Gewalttätigkeit das sechzehnte Jahrhundert gewesen ist. Über das neunzehnte allerdings zitterte er und suchte vergeblich nach angemessenen Schmäh- und Schimpfworten.
Und was sein eigenes Zeitalter anbelangt, so verursachte ihm das einen derart hohen Blutdruck, daß ich ihm ein Beruhigungsmittel geben und ihn mit Hilfe einer Krankenschwester via Zeitmaschine herausholen mußte. Sie sah aus wie Beatrice und war wahrscheinlich genau die Medizin, die er brauchte – vielleicht.“
Großpapa dachte kichernd daran, daß Chib als Kind diese Zeitreisegeschichten alle ernst genommen hatte, die er ihm beschrieb, und zu seinen Besuchern gehörten unter anderem: Nebukadnezar, der König der Grasfresser, Samson, der Rätselmeister der Bronzezeit, und Quell, der Philister, Moses, der seinem kenitischen Schwiegervater einen Gott stahl und dann sein ganzes Leben lang gegen die Beschneidung kämpfte, Buddha, der originale Beatnik, Sisyphus, der sich ausnahmsweise mal vom Steinerollen erholte, Androkles und sein Kumpel, der feige Löwe aus Oz, Baron von Richthofen, der Rote Baron aus Deutschland, Beowulf, AI Capone, Hiawatha, Iwan der Schreckliche und hundert andere.
Doch es kam der Zeitpunkt, da stellte Großpapa zu seinem Schrecken fest, daß der Junge Erfundenes und Tatsächliches vermischte. Er erzählte dem Jungen ungern, daß er all die schönen Geschichten nur erfunden hatte, um ihm ein wenig Geschichtsunterricht zu verpassen. Es war, als würde man einem Kind erzählen, daß es keinen Nikolaus gibt.
Und dann, während er seinem Urenkel widerwillig die Wahrheit
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