Kopernikus 8
schlechte Gewohnheit, die sie ihres regelmäßigen Einkommens beraubt. Ich bin ja offiziell tot, also bekomme ich die Purpurne Sozialhilfe auch nicht. Chib muß also für alles geradestehen, indem er seine Bilder vermarktet und verkauft. Luscus hat ihm geholfen, indem er ihn bekanntgemacht hat, aber Luscus kann sich auch jeden Augenblick wieder gegen ihn wenden. Doch der Erlös der Bilder reicht immer noch nicht aus. Geld ist keine Grundlage unserer Ökonomie, es ist lediglich ein seltenes Hilfsmittel. Chib braucht die Unterstützung durch den Zuschuß, den wird er aber nur bekommen, wenn er sich von Luscus lieben läßt.
Es ist nicht so, daß Chib homosexuellen Beziehungen ablehnend gegenübersteht. Wie die meisten seiner Zeitgenossen ist auch er bisexuell. Ich glaube, daß er und Omar Runic sich immer noch hin und wieder einen blasen. Und warum auch nicht? Sie lieben einander. Aber Chib weist Luscus aus Prinzip zurück. Er möchte sich nicht zur Hure machen, um seine Karriere erfolgreich zu gestalten. Außerdem trifft Chib darüber hinaus eine Unterscheidung, die tief in dieser Gesellschaft eingebettet ist. Er glaubt, daß freiwillige Homosexualität natürlich ist (was auch immer das bedeutet?), während erzwungene Homosexualität, um einen altmodischen Ausdruck zu verwenden, abartig ist. Zutreffend oder nicht, diese Unterscheidung wird eben getroffen.
Chib mag also nach Ägypten gehen. Aber was wird dann aus mir werden?
Kümmere dich nicht um mich oder deine Mutter, Chib. Was auch geschehen mag: Gib Luscus nicht nach. Erinnere dich an die letzten Worte des sterbenden Singleton, Vorstand des Amtes für Resozialisierung und Rehabilitation, der sich erschossen hat, weil er sich nicht an die neuen Zeiten gewöhnen konnte.
,Was ist, wenn ein Mann eine Welt gewonnen und seinen Arsch verloren hat?’“
In diesem Augenblick sieht Großpapa, wie sein Urenkel, der bisher irgendwie mit hängenden Schultern einhergeschritten ist, diese plötzlich strafft. Dann fängt Chib an zu tanzen, ein kleiner improvisierter Shuffle, gefolgt von einigen Drehungen. Es ist offensichtlich, daß Chib laut brüllt. Die Fußgänger um ihn herum grinsen.
Großpapa stöhnt, dann lacht er. „O Gott, die bocksbeinige Energie der Jugend, die unvorhersehbaren Verlagerungen des Spektrums von tiefschwarzer Sorge zum hellen Orange ausgelassener Freude! Tanze, Chib, tanze den Kummer aus deinem Kopf! Sei glücklich, und wenn es auch nur für einen Augenblick ist! Du bist noch jung, unbändige Hoffnung brodelt tief in deinem Innern. Tanze, Chib, tanze!“
Er lacht und wischt sich eine Träne ab.
SEXUELLE HINTERGRÜNDE DER
ANKLAGE GEGEN
DIE HELLE BRIGADE
ist ein so faszinierendes Buch, daß Doktor Jespersen Joyce Bathymens, Psycholinguist des Bundesamtes für Gruppenrekonfiguration und Interkommunikabilität, nur ungern zu lesen aufhört, doch die Pflicht ruft.
„Ein Rettich ist nicht notwendigerweise rötlich“, spricht er ins Tonbandgerät. „Die Jungen Rettiche nannten ihre Gruppe so, weil ein Rettich ein Keimwurzler oder Radikel und damit radikal ist. Gleichzeitig besteht ein Wortspiel mit Wurzeln und Rotarsch, und das ist ein bekannter Slangausdruck für Zorn, und möglicherweise mit peppich für aufmuckend und brünstig. Und zweifellos auch mit Retnickel, einem in Beverly Hills gebräuchlichen Wort der Umgangssprache für eine ruppige, unbeliebte und gesellschaftlich geächtete Person.
Und doch sind die Jungen Rettiche nicht das, was ich als links bezeichnen würde. Sie repräsentieren lediglich den derzeitigen Unwillen gegenüber dem Leben im allgemeinen. Sie streben
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