Kopernikus 8
erkunden. Er war nur ein oder zwei Male hier gewesen, aber noch nie hatte er so viele Menschen gesehen. Das größte Gebäude der Farm war eine aus Holz erbaute Pyramide. Die Fenster und verschiedene Teile der Wand waren heruntergeklappt, um das Tageslicht einzulassen. Spatz hielt sich von den auf dem Rasen spielenden Kindern fern und umrundete das Haus, wobei er in offene Räume spähte. In einem saßen ungefähr zehn Leute und hielten sich bei den Händen. Sie hatten alle die Augen geschlossen, und er vermutete, daß sie Om praktizierten. Fuchsia hatte ihm das im letzten Herbst beigebracht. Es vermittelte ein gutes Gefühl, besonders, wenn man es durch die Hände des Nachbarn spürte.
Er schlüpfte unter einem niederen Bogen in der Hecke hindurch und gelangte in den Garten. Blumen aller Farben blühten im Sonnenlicht. Hinter einigen Büschen reckte sich ein riesiger, knorriger Kirschbaum himmelwärts, wo er zu einem weißen Blütenmeer explodierte. Mehrere Beinpaare hingen daraus herab, und oben wurde die Krone geschüttelt, was zu einem weißen Regen führte. Spatz ging langsam zwischen den Büschen auf den Baum zu und grinste glücklich bei dem Gedanken an ein Versteck, der seine Wirbelsäule emporkribbelte.
Er rannte um einen Busch herum und stand plötzlich inmitten einer Gruppe von Leuten, die im Gras saßen. Einige sahen zu ihm auf. Er konnte sich nicht bewegen. Eine Frau spielte Gitarre, alle anderen bewegten sich mit offenen Mündern wiegend hin und her. Er konnte ihre Worte nicht verstehen, da sie die Lippen nicht genügend bewegten. Mit einiger Anstrengung riß er sich los und lief in eine andere Richtung.
Ein Versteck! Er entdeckte einen Busch, kroch darunter und kauerte sich in der trockenen, von Blättern umgebenen Kuhle zusammen. Das war schon besser.
Manchmal fragte er sich wirklich, wie es sein mußte, von Dingen zu wissen, die man nicht sehen konnte. Er konnte verschiedene Dinge fühlen, Trommeln, das Om und den Zeppelin heute morgen. Er spürte diese Dinge im Magen und mit den Fingerspitzen und auch, wenn er die Hände auf die Kehle von jemandem legte, der sprach oder sang. Aber wie mochte es sein, jemanden zu fühlen, der mit abgewandtem Rücken sprach? Wie mochte es sein, eine Vogelstimme in den Zweigen eines Baumes trällern zu hören? Konnten andere Menschen diese Dinge wirklich aus der Ferne fühlen?
Seine Aufmerksamkeit wurde von Bewegungen außerhalb der Blätter abgelenkt. Alle gingen in dieselbe Richtung – zum Haus. Es schien an der Zeit zu sein – aber woher wußten sie das?
Als die Glocke zu läuten begann, war es in der Küche schon übervoll und laut. Einen Atemzug lang verstummten alle rings um Coyote, dann begannen sie wieder zu sprechen, aber nun leiser, mit veränderten Stimmen. Sie gingen alle auf die Tür zu, die zum Gemeinschaftsraum führte. Coyote stellte seine Teetasse ab und folgte ihnen. Er fühlte sich gesellschaftlich isoliert und gleichzeitig irgendwie klar im Innern und dem Augenblick verhaftet. Er lächelte und nickte, wenn er Freunde sah, aber ihm war nicht danach zumute, mit jemandem zu sprechen, und mit ihm sprach auch keiner. Die Standuhr im Flur zeigte drei Uhr fünfzehn, das lange Pendel tickte langsam hinter dem Glas vor und zurück.
Das Gemeinschaftszimmer war ein zweistöckiger Raum. Wanderer saß im Lotossitz in der Mitte, während ihre Freunde den um sie verbleibenden Raum zu füllen begannen, die Kinder vorn, die größten Erwachsenen säumten die Wände. Coyote saß zwischen Menschen seiner Größe etwa in der Mitte der Versammelten. Seiner Schätzung nach hatten sich etwa hundert Menschen hier versammelt. Einige von ihnen erkannte er als Mitglieder dieses Haushalts. Er sah Schwan und Fuchsia, die zusammen rechts von ihm saßen, aber keiner sah zu ihm herüber. Fast jeder sah zu Wanderer. Coyote wandte sich ab, überkreuzte die Beine zu einer angenehmen Halb-Lotosstellung, und dann sah er Spatz“ knochige Gestalt unter der Tür auftauchen. Er wünschte sich, der Junge würde in seine Richtung sehen …
Die Gruppe atmete nun im gleichen Rhythmus mit Wanderer. Sie zog die Bauchdecke ein, entspannte sich wieder, mit jedem Atemzug hoben und senkten sich ihre Nasenflügel sichtbar. Man hörte nur noch das gemeinsame Atmen sowie die Schreie von Kindern und das Bellen von Hunden draußen. Wanderers runder Bauch erzitterte. Die Versammelten stimmten einen leisen Gesang an, dessen Rhythmus sich dem Atmen der Schwangeren und den Kontraktionen ihres
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