Kopernikus 8
wahrnimmt, verstärkt und umwandelt, reagiert auf ihn. Chib ist zu aufgeregt. Magnetische Mahlströme rasen über seine Haut und zerstören die spektrale Konfiguration. Die Tür rollt halb zurück, rollt wieder vor, ändert ihre Meinung, rollt zurück und wieder vor.
Chib kickt gegen die Tür, worauf sie vollends blockiert. Er beschließt, ein Video- oder Audiosesam einbauen zu lassen. Der Ärger ist nur, daß er knapp an Einheiten ist und die entsprechenden Materialien nicht kaufen kann. Schulterzuckend begibt er sich in dem einwandigen Flur bis zu Großpapas Tür, die hinter den Ziehharmonikawänden vor den Blicken derer im Wohnzimmer verborgen ist.
„Denn er sang von Frieden und Freiheit,
Sang von Schönheit, Liebe und Verlangen;
Sang von Tod und unsterblichem Leben
Auf den Inseln der Gesegneten,
Im Königreich von Ponemah,
Im Lande des Jenseits.
Sehr nahe bei Hiawatha
War der sanfte Chibiabos.“
Chib singt das Kodewort. Die Tür rollt zurück.
Licht strahlt heraus, ein gelbliches, rötlich angehauchtes Licht, das Großpapas eigene Erfindung ist. Schaut man ins konvexe Oval der Tür, so ist das, als würde man in die Iris im Auge eines wahnsinnigen Riesen schauen.
Großpapa, in der Mitte des Raumes, hat einen weißen Bart bis zu den Oberschenkeln und Kopfhaar bis fast an die Kniekehlen. Obwohl Haar und Bart seine Nacktheit verbergen würden und er überdies nicht mehr unter die Leute geht, trägt Großpapa eine kurze Hose. Großpapa ist ein wenig altmodisch, was aber bei einem Mann von einhundertundzwanzig Lenzen auch verständlich ist.
Er ist einäugig, wie Rex Luscus. Aber er lächelt mit eigenen Zähnen, die aus vor dreißig Jahren eingepflanzten Stummeln gewachsen sind. Eine große, grüne Zigarre sticht aus einem Mundwinkel hervor. Seine Nase ist breit und platt, als wäre die Zeit schweren Fußes über sie hinweggeschritten. Stirn und Wangen sind ebenfalls breit, was wahrscheinlich auf einen Schuß Ojibwayblut zurückzuführen ist, der in seinen Adern fließt, obwohl er ein geborener Finnegan ist und sogar keltisch riecht, sieht man vom Whiskeyaroma ab. Er hält den Kopf aufrecht, und die blauen Augen sind wie Tümpel am Fuß einer urzeitlichen Schlucht, die Überbleibsel eines geschmolzenen Gletschers.
Alles in allem ist Großpapas Gesicht das Odins, der gerade vom Brunnen von Mimir zurückkommt und sich fragt, ob er einen zu hohen Preis gezahlt hat. Oder ist es das Gesicht der windumtosten und sandgeschmirgelten Sphinx von Gizeh?
„Vierzig Jahrhunderte der Hysterie sehen auf euch herab, um Napoleon zu verballhornen“, sagt Großpapa. „Der Felskopf der Jahrhunderte. Was also ist der Mensch? sagte die neue Sphinx, nachdem Ödipus die Frage der alten Sphinx beantworten konnte und nichts gewann, weil Sie bereits eine andere ihrer Art hervorgebracht hatte, ein klugscheißerisches Kind mit einer Frage, die bislang noch keiner zu beantworten wußte. Und vielleicht läßt sie sich auch gar nicht beantworten.“
„Du redest immer so komisch“, sagt Chib. „Aber das gefällt mir so.“
Er grinst Großpapa an und hat ihn gern.
„Du kommst schließlich jeden Tag hierher, nicht so sehr wegen meiner Liebe, sondern um Wissen und Einsicht zu gewinnen. Ich habe alles gesehen, alles gehört und viel nachgedacht. Ich bin viel gereist, ehe ich vor einem Viertel Jahrhundert in diesem Räume Zuflucht suchte. Doch die Einzelhaft hier war die größte Odyssee von allen.
DER ALTE MARINATOR
So nenne ich mich selbst. Eine Marinade der Weisheit, eingelegt in die Lake eines versalzenen Zynismus und eines zu langen Lebens.“
„Du lächelst so. Du scheinst gerade eine Frau gehabt zu haben“, sagte Chib.
„Nein, mein Junge, die Spannungen in meinem Rammbock habe ich schon vor dreißig Jahren verloren. Und ich danke Gott dafür, denn es entbindet mich dem Zwang, zum Fickomat zu gehen, ganz zu schweigen von der Masturbation. Ich habe allerdings noch andere verbleibende Energien und Möglichkeiten zur Sünde, und die sind ernst genug.
Aber abgesehen von der Sünde der sexuellen Vereinnahmung, die paradoxerweise eine sexuelle Verausgabung erfordert, hatte ich auch noch andere Gründe, den Alten Schwarzen Magier Wissenschaft nicht um Schüsse zu bitten, die mich wieder aufrappeln. Ich war zu alt für junge Mädchen, die nur noch an mein Geld wollten. Und ich war zu sehr Poet und Liebhaber der Schönheit, als daß ich mit den runzligen Schrullen meiner Generation vorliebgenommen hätte.
Du
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