Kopf Unter Wasser
breitete der Rezensent Henrys bäuerliche Herkunft aus, die im Heft durch das Schwarz-WeiÃ-Foto einer DDR-Milchviehanlage illustriert wurde.
Der Artikel war offensichtlich dumm und infam, und dennoch ärgerte sich Henry, denn das Magazin war eines der auflagenstärksten und in gewisser Weise meinungsbildend. Wenigstens sprang ihm sein Chef bei. Im Wochenend-Feuilleton nannte er den Rezensenten einen Blut-und-Boden-Ideologen, dessen vermeintliche Erkenntnisse Henry betreffend sich noch am ehesten auf ihn selbst anwenden lieÃen. Er nannte ihn einen missgünstigen WadenbeiÃer und einen Wendeverlierer, dessen Steinzeitmoralismus zehn Jahre nach dem Ende des real existierenden Sozialismus kein Schwein mehr interessiere. Daraufhin schalteten sich im Laufe der nächsten Woche weitere Zeitungen ein, und diese Feuilletondebatte dauerte gut anderthalb Wochen und hievte Henrys Buch schlieÃlich in die mittleren Ränge der Bestsellerliste. Die Verlagsleute waren aus dem Häuschen und erhöhten das Budget für die Weihnachtsoffensive, sodass Henrys Buch in den mittleren Rängen der Liste überwinterte. Gleichzeitig hagelte es Angebote für Podiumsdiskussionen, vor allem aber für Lesungen. Anfangs kam Henry jeder Anfrage nach, später erhöhte er die Preise, und ab dem Frühsommer sagte er alle Diskussionen ab und las, für ein nochmals heraufgesetztes Mindesthonorar, nur noch an Orten, die in schönen Landschaften lagen oder ihn sonst wie interessierten. Im Ãbrigen warfen diese Lesereisen genug Stoff für seine Kolumnen ab. Er hatte sich angewöhnt, sie auf einem Notebook während der Zugfahrten zu schreiben.
Bettina, die seinen Erfolg von London aus beobachtete, sagte im Scherz, er sei ja nun reich, und Henry, sagte, ja, wenn man ihn mit den anderen Bauernsöhnen aus der Uckermark vergleiche, dann könne man das wohl behaupten.
Was er Bettina verschwieg, war ein Treffen mit dem Anlageberater seiner Bank, der ihm riet, sein Geld arbeiten zu lassen, so wie es jeder vernünftige Mensch mache. Er empfahl ihm, in Aktien zu investieren, da das Verlustrisiko zwar geringfügig höher sei als bei anderen Anlageformen, es im Gegenzug aber eine ordentliche Rendite gebe. Staatsanleihen, Immobilienfonds, das sei alles Mädchenkram.
Im Frühjahr, gut sechs Monate nach der Buchmesse, war die zweite Auflage verkauft, und ungefähr zur gleichen Zeit lag eine Einladung des Goethe-Institutes im Briefkasten, für acht Tage nach Seoul zu kommen, um eine Reihe von Lesungen mit jeweils anschlieÃendem Gespräch abzuhalten.
Wenn er schon auf Kosten des Steuerzahlers nach Korea fahre, solle er dem Steuerzahler auch ein kleines Souvenir mitbringen, hatte sein Chef gesagt. Ein paar GroÃstadtmomente, ein paar Eindrücke von der innerkoreanischen Grenze in der entmilitarisierten Zone. Er habe gelesen, dass es Aussichtspunkte gebe speziell für Touristen. Möglicherweise treffe er ja dort auf einen Südkoreaner, der Verwandte im kommunistischen Norden habe. Das lieÃe sich wunderbar einbauen, das sei gut fürs Herz. Das Goethe-Institut werde ihm mit Sicherheit einen Dolmetscher zur Seite stellen.
Gegen vierzehn Uhr Ortszeit ging das Flugzeug in den Sinkflug. Zehn Minuten später erkannte Henry erste Inseln im Gelben Meer. Der Anblick erinnerte ihn an japanische Tuschebilder: Hügel, Wasser, scharfe Konturen, starke Kontraste. Aber eigentlich war er zu zerschlagen, um die Assoziation weiterzuführen. Den gesamten Flug über hatte er, eingeklemmt auf dem mittleren Sitz der Mittelreihe, kein Auge zubekommen. Auch der Rotwein, den er sich wieder und wieder von der wachhabenden Stewardess holte, verhalf ihm zu keinem Schlaf. Kurz nachdem sie sich geweigert hatte, eine weitere Flasche herauszugeben, wurde es drauÃen hell, und die übliche Geschäftigkeit einer erwachenden Touristenklasse brach aus.
Leicht benommen und mit brennenden Augen stand Henry schlieÃlich vor der Abflughalle und inhalierte den Rauch seiner Zigarette, als müsste er ohne ersticken. Die Sonne brannte herunter â es mochten um die 30 Grad im Schatten sein â, und das Aluminium, mit dem sämtliche Flughafengebäude beschlagen waren, reflektierte das grelle Mittagslicht in alle Richtungen. Makelloser blauer Himmel, nicht die Spur einer Wolke. Henry zündete sich eine weitere Zigarette an. Ihm fiel ein, dass seine Sonnenbrille irgendwo in den Tiefen des Koffers
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